In Hellerau beginnt das Tanzjahr fulminant. Draußen ist es kalt. Im großen Saal, der bis auf den letzten Platz besetzt ist, wird kräftig eingeheizt. Dafür sorgen Gäste aus Brasilien, Bruno Beltrão / Grupo de Rua mit dem Programm „H3“. Nein, keine wilde, sich überschlagende Breakdance-Show, die man vielleicht hätte erwarten können. Und doch es sind die Elemente, die Motive, die Bewegungen jener existenziellen Tänze, zu denen die Klänge der Straße gehören, die in der Soundcollage wie aus weiter Ferne kommen. Durch extreme Verlangsamungen gehen die Bewegungen über in Formen und Formate des modernen Tanzes um aber gleich wieder ganz kräftig, ganz feinsinnig, mit kleineren oder größeren Veränderungen jeder möglichen Art, der Ein- oder Zuordnung entgegen zu tanzen. Wir erleben in mehreren Varianten eine Vielzahl von Abbildern nonverbaler Kommunikation, Kämpfe, Konkurrenz und immer wieder große Zärtlichkeit, die sich auf Partner oder den eigenen Körper beziehen.
Neun Tänzer, eine Tänzerin und eine Stunde Abenteuer, der Humor kommt nicht zu kurz. Manche Elemente des Breakdance wandeln sich zu Pirouetten ganz ungewohnter Art. Wir sehen Sprungvarianten aus dem Stand und haben doch nicht das Gefühl einer Artistenshow beizuwohnen. Ein Hauptmotiv des Abends ist der rasante Rückwärtslauf bei dem alle Tänzer und die Tänzerin ganz individuell gewohnte Tanzvorstellungen auf den Kopf stellen. Es lässt sich auch nicht immer erkennen, was gerade aus der Tradition des Breakdance kommt, aus dem Hip-Hop, wir sind ja auch nicht zu einer Tanzstunde geladen, sondern zu einem Tanztheater der besonderen Art, das sich seine Motive und tänzerischen Elemente aus unterschiedlichen Quellen holt und damit die Straße in den Ballettsaal und diesen auf die Straße bringt. Und alles fügt sich im faszinierenden Schlussbild, wenn die ganze Kompanie in einer Reihe rückwärts auf uns zu kommt, alle sich ganz tief nach hinten beugen, und wir nicht unterscheiden können, wer hier eigentlich kopfsteht.
Wer sich aber doch einen wilden Abend à la Breakdance-Show pur erhofft hatte, kam auch noch voll auf seine Kosten: als nämlich zum Schlussapplaus sich alle zehn Mitglieder der Kompanie mit je einer Variante dieser atemberaubenden Kunst präsentierten. Toller Start in Hellerau, Fortsetzung folgt: am 10. und am 11. Februar präsentieren der Choreograf Alain Platel, der Musik-Regisseur Frank van Laecke, die transsexuelle Schauspielerin Vanessa van Durme mit weiteren sieben älteren Transsexuellen und einem jungen Tänzer ihre international erfolgreiche Produktion „Gardenia“. Dann kann das Hellerauer Team gerade noch mal tief Luft holen, vom 23. bis 26. Februar heißt es rund um die Uhr: „Tanzplattform Deutschland“.
Das „Pariser Leben“ an der Staatsoperette köchelte am Freitag szenisch auf Sparflamme. Musikalisch gab es dagegen manchen Funkenflug. Insgesamt aber sprang am Premierenabend zu wenig über.
Liederabende in der Semperoper sind out, Lieder in Semper 2 sind in. Semper 2, das ist eine große Probebühne, die sich wie jüngst erlebt, schwer mit der Atmosphäre eines Konzertsaales ausstatten lässt. Da hilft es auch nicht, wenn in mäßiger Reproduktion ein Abbild des Schmuckvorhanges aus dem Opernhaus in die Probebühne gehängt wird. Muss ja auch nicht sein. Warum nicht den Raum nehmen wie er ist: als einen Ort des Experiments mit Studioatmosphäre! Das wäre doch angemessen, wenn sich wie am Sonntagabend junge Ensemblemitglieder in einem anspruchsvollen Programm mit Liedern von Debussy, Schönberg, Berg und Wolf vorstellen. Gesanglich, musikalisch, interpretatorisch gibt es angenehme Überraschungen zu vermelden von Romy Petrick, Valda Wilson, Markus Butter und Allan Boxer mit ihrem so zuverlässig wie situativ reagierenden Pianisten Nikolai Petersen.
Aber wo ist das Publikum? Kommt es nur, wenn „Weltstars“ in der Semperoper zu Gast sind? Dass nicht ein jeder Weltstar auch die Kunst des Liedgesanges beherrscht, haben wir oft genug erfahren.
Die Initiatoren von „Lieder in Semper 2“ sollten sich dennoch nicht entmutigen lassen, Sängerinnen und Sänger des Ensembles auf besondere Weise vorzustellen. Am Sonntag gab es auch Lieder von Hugo Wolf, und da heißt es in einer seiner charmantesten Miniaturen „Auch kleine Dinge können uns entzücken“. Und ein bisschen müssen wir uns auch entzücken lassen wollen.
Herzlich, bis Montag,
Boris Gruhl