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„Schüler gucken blutige Hurenoper“

"IRRE RUSSEN-THEORIE: Hitler liegt im ewigen Eis der Antarktis begraben" titelt die Knallpresse heute, und hat es damit geschafft, eine Meldung über einen wissenschaftlichen Meilenstein – nämlich die bevorstehende oder bereits gelungene Anbohrung eines für hunderttausende von Jahren von der Außenwelt durch eine dicke Eisschicht isolierten unterirdischen Sees – in einen Quotenrenner zu verwandeln. Andere Medien sprangen bereits wollüstig auf diesen Zug auf ("Russen vermuten Hitlers Überreste im Wostoksee"), freilich ohne zu recherchieren, was eigentlich vorgestern in der Originalmeldung der Nachrichtenagentur Ria Novosti über den beliebtesten Deutschen der BILD stand: ничего. (und, ja, ich habe auch die entsprechende russischsprachige Meldung auf Naziklone geprüft).

Ähnlich saftiges Krawallzeugs schält sich auch der promovierte Historiker Dr. Jürgen Helfricht immer gern aus den Rippen, wenn es darum geht, eine Nachricht zu produzieren. Eines seiner Highlights des Jahres 2011, ein Text über Hans-Joachim Frey ("Dieser Dresdner ist Putins Impresario") musste leider schon eine Stunde nach Veröffentlichung aus dem Netz genommen werden; wegen Weinkrämpfen der Redaktion oder einer flugs zugestellten Unterlassungserklärung, konnte ich nicht klären: Herr Helfricht antwortete leider nicht auf meine Anfrage. Sein jüngster Geniestreich jedenfalls: die erschröckliche Beinah-Moritat von der sadistischen Semperopern-Intendantin und armen Kinderchen, die das neueste Blut-, Schweiß- und Semen-Machwerk des Regieunholds Stefan Herheim zu (Achtung, echtes Reizwort) "modernem Zwölftongesang" durchleiden mussten.

Wer es übers Herz bringt und den strunzdämlich konstruierten Artikel konsumiert, für den bieten sich zwei Lesarten für diese Entgleisung an: entweder Helfricht war schlicht zu bratzlich, hat die ungemein kluge, beileibe nicht vordergründig provozierende Inszenierung einfach nicht verstanden und sich hernach irgendetwas ausgedacht, um die Krawallquote der Redaktion auch im Kulturteil brav zu erfüllen. (Leider gaben die Szenenfotos nicht viel mehr her, als sowieso täglich an geilen Hupen in der BILD-Zeitung abgebildert ist; die Scham der Protagonistin bleibt beispielsweise – sorry, Herr Helfricht – durch ein vielsagendes Feigenblatt bedeckt.) Oder er hat tatsächlich eine Ahnung bekommen, wovon der Regisseur eigentlich erzählt – nämlich der Tragik einer wollüstig geifernden Gesellschaft, in der "Jungfrauenaktien" gehandelt und individuelle Reizschwellen immer weiter und weiter verschoben werden -, dann aber trotzdem den blutrünstigen Titel gewählt, ohne sich im Klaren zu sein, wer hier gerade wen karikierte. Welche Variante für den Ruf eines so genannten Kulturjournalisten peinlicher ist, mag ich nicht entscheiden.

Dass die Redaktion, für die Helfricht tätig ist, stattdessen mal den sinnfälligen Schluss gezogen und anlässlich der jüngsten Inszenierung die eigene Alltags-Praxis der Ausschlachtung von Blut- und Sexthemen hinterfragt hätte – das wäre doch mal eine Schlagzeile wert gewesen.

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