Der Grund, warum die Mittwochskolumne dieses Mal Donnerstag erscheint: totale Kunst-Überlastung! Die vergangenen Tage habe ich über verschiedenen Streicher-Arrangements für die neue Platte von Bergen gebrütet. Der Kreuzkantor erzählte uns im großen Jahresinterview, was wir vom Kreuzchor in den nächsten Jahren zu erwarten haben. Und der russische Beitrag für den Eurovision Song Contest steht fest: hui, es wird ganz heiß!
Gestern Mittag teilte Radebeul-Intendant Manuel Schöbel Neuigkeiten über das Sommerprogramm mit, die bei allen Hiobsbotschaften der letzten Monate den guten Willen des künstlerischen Ensembles wieder in den Mittelpunkt stellen. Interessant: die Künstler (Ballett und Orchester) stehen Gewehr bei Fuß, sollte für diesen Sommer eine Einladung für eine Bespielung des Zwingers erfolgen. Die Zwingerfestspiele pausieren ja momentan; ob es 2013 eine Neuauflage des Spektakels geben wird, ist zumindest fraglich; für die wichigsten Tourismusmessen erfolgte der kürzlich bekanntgewordene Verkauf der Festspiele Monate zu spät.
Gestern Abend war ich beim Mozart-Orchester zu Gast (nächstes Konzert des Ensemble: 25. März in der Dreikönigskirche). Der letzte Intendant der Musikfestspiele, Hartmut Haenchen, teilte mir die Eckdaten seiner Amtszeit mit, die es nun mit denjenigen des aktuellen Teams abzugleichen gilt. Was sich abzeichnet: die "Stuhlquote", also die öffentliche Fördersumme pro verkaufter Konzertkarte, hat sich in Jan Voglers Amtszeit mehr als verdoppelt. Der Kartenverkauf ist – gegen den Trend anderer Kultureinrichtungen in Dresden – ganz leicht gesunken. Eine genauere Analyse folgt demnächst auf »Musik in Dresden«.
Eine gespenstische Szenerie heute Abend im TV, ein Theaterregisseur könnte das nicht beklemmender inszeniert haben: da spielt ein stahlbehelmter Piccoloflötist und wird begleitet von einem vielhundertstimmigen Vuvuzela-Chor… Das Erste Deutsche Fernsehen berichtet umfangreich, zeigt "SCHÄM DICH"-Schilder, Schuhe werden in die Kamera gehalten, man gibt auch einem Demonstranten die Möglichkeit, "diesem Kerl, dem die Staatsanwaltschaft auf den Fersen ist," noch einmal stellvertretend für viele hundert Protestierende den sprichwörtlichen Marsch zu blasen. Viel Feind, viel Ehr, daher auch viel Ehrensold, mag sich der zurückgetretene Bundespräsident derweil still denken. Glücklich sieht er nicht aus, während der Spielmannszug "Over the Rainbow" intoniert.
Leichte Mißtöne auch auf anderen Kanälen: diese Woche war das Hornquartett der Berliner Philharmoniker bei Harald Schmidt zu Gast. Gut, der Ratschlag "Nessun Dorma" liegt nicht fern, war vielleicht sogar als ironischer Kommentar der Musiker auf Schmidts letzte Quoten gedacht – aber den dann so zu verquieksen, wie das die vier Spitzenhornisten taten? As-Dur auf einem F-Horn zu spielen, scheint nicht leicht zu sein.
Und weitergezappt: "Putins Impresario" (BILD über Hans-Joachim Frey) zieht den Competizione dell'Opera endgültig aus Dresden ab. In Linz, wo Frey ab 2013 als eine Art städtischer Supermanager angestellt sein wird, mag es gebefreudigere Sponsoren geben, auch ist er als künftiger "Hausherr" des Brucknerhauses nicht auf die Gunst oder Missgunst eines anderen Intendanten angewiesen. Ulrike Hessler hatte Frey nach 2010 keine Konzerte mehr in der Semperoper gestattet: eine sanfte Ohrfeige für die zuletzt arg mangelnde künstlerische Qualität des Ausscheids vielleicht. Offiziell sicherlich aus demselben Grund, aus dem nun auch der Jazz aus dem Haus verbannt wurde: man möchte die Quote der Eigenveranstaltungen erhöhen. Trotzdem: Man darf einen Gesangswettbewerb nicht zur reinen Wirtschaftsveranstaltung machen und die Kunst darüber vernachlässigen. Der Anton-G.-Rubinstein-Klavierwettbewerb krankt an ähnlichen Dingen. Auch ihm bleiben die Tore der Oper dieses Jahr verschlossen.
Eine wahre Erleuchtung ist jetzt schon fast wieder eine Woche her: in Hellerau wurde der Einakter "Neither" des Komponisten Morton Feldman aufgeführt, auf ein siebenundachtzig Worte zählendes Libretto von Samuel Beckett. Ein bisschen verirrte sich das Berliner Künstlernetzwerk phase7 allerdings in Technikverliebtheit: es wurde nicht ganz klar, warum das Orchester nun unbedingt in einen von 72 Lautsprechern erzeugten virtuellen Raum ausgelagert wurde, und auch die norwegische Sopranistin Eir Inderhaug stand etwas unentschlossen im zentralen Bühnenwürfel, von dem aus sich gleißende Lichtstrahlen in den Raum schnitten: wohin sollte sie nun gleich gucken und sich wenden – und warum? Trotzdem: ein beeindruckendes Erlebnis eines eigentlichen Nicht-Werkes.
Herzlich, bis – Mittwoch?
Martin Morgenstern