Die Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs ist eine der Hauptsäulen, auf denen das Klanggewölbe des Kreuzchors ruht. Unvergessen die herausragende Aufnahme unter den Mauersberger-Brüdern, damals mit Thomanern, Gewandhausorchester und Peter Schreier als Evangelisten – 1970 war das. Vor fünf Jahren nun bereiste der Kreuzchor mit der Philharmonie Japan und Südkorea und hatte das Werk als klangliches Aushängeschild im Programm. Fundamental unterscheiden sich die Interpretationen der Kreuzkantoren: nicht nur lässt Roderich Kreile rascher und federnder musizieren. Auch haben Chor und Orchester den Klang heute merklich entschlackt. Sie wirken dadurch weniger als historische Monumentalkulisse für einen – damals freilich einzigartig lebendigen – Erzähler, sondern tragen nun ihrerseits temperamentvoll zur Auseinandersetzung mit der Passionsgeschichte bei.
Einen Riesensprung hat dafür auch die Philhamonie in aufführungspraktischer Hinsicht gemacht: silbrigglänzend spannen die Streicher die Töne. Nur an ausgewählten Stellen mit Vibrato versetzt, stand so der Orchesterklang transparent im Kirchenschiff und bot den ausnahmslos vorzüglichen Solisten – Ute Selbig, Annette Markert, Daniel Ochoa, Tobias Berndt – eine feine Grundlage. Wendig und unmittelbar zuckten darüber die Blitze durch den ausgezeichnet artikulierenden Chor, untermalt vom Orgelpart, den Peter Kopp anstatt des erkrankten Kreuzorganisten übernommen hatte. Wie die stellvertretende Konzertmeisterin Eva Dollfuß die reichen Verzierungen im Geigenpart der Bass-Arie "Gebt mir meinen Jesum wieder" behende und nicht ohne Restrisiko anging, das verlieh der Musik berauschende Direktheit und Kraft. Schließlich spannte Kreile mit dem Chor einen himmelweiten Crescendo-Decrescendo-Bogen auf: "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen."
Thomas Michael Allen oblag es, die Erzählfäden zu verknüpfen; er tat das eher zurückhaltend. Täuschte am Donnerstag die Akustik der nur mittelmäßig besetzten Kreuzkirche, oder hatte der Tenor hie und da doch Mühe mit der immens fordernden, immerhin über drei Stunden sich erstreckenden Evangelisten-Partie? Sein gewandter Ausdruck und die sensible Stimmführung überzeugten allemal, und machten den 2012er "Jahrgang" endgültig erinnernswert.
Eine Textfassung des Artikels ist am 7. April in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.