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Kreuzkantor Roderich Kreile: „Ich möchte mich in Zukunft ausführlicher in der Mehrchörigkeit, im Barock tummeln…“

Roderich Kreile, als die Stadtspitze Mitte März bekanntgab, für den Kulturpalastumbau Mittel aus der Kreuzchorstiftung umschichten zu wollen, zeigten Sie sich öffentlich „entsetzt“. Inzwischen aber gab es ein Gespräch mit Frau Orosz. Sie konnte Sie offenbar beruhigen?

Nach intensiven, konstruktiv geführten Gesprächen war es möglich, die Zielsetzung der Stadtstiftung Dresdner Kreuzchor zu retten und abzusichern, so dass wir in wenigen Jahren über den geplanten Alumnatsanbau werden verfügen können.

Das Kapital der 2009 gegründeten Kreuzchorstiftung beträgt 14 Millionen Euro. Bei einer marktüblichen Verzinsung können Sie bis 2016 insgesamt mit etwa einer Million Euro Stiftungserträgen rechnen. Hat die Stadt Ihnen zusätzliche Mittel in Aussicht gestellt?

Nun muss natürlich erst mal der Stiftungsrat zusammenkommen und die Situation bewerten. Ich könnte mir dann Folgendes vorstellen: Die Zinsen werden angespart und fließen in den Neubau, der ja eine Menge an Vorab- und Zusatzkosten verursacht: so müssen z.B. Kruzianer ja während der Bauphase in Ausweichquartieren untergebracht werden, was sicher erhebliche Kosten verursacht. Es gibt also noch eine Menge Klärungsbedarf.

Kommen wir zu den künstlerischen Perspektiven. Ihre Einschätzung als Kritiker: wie würden Sie den Klang des Chors momentan beschreiben?

Vieles erklärt sich da aus der Tradition heraus, einiges auch durch den Kirchenraum und die Größe des Chores. Ein romantisches Klangbild steht im Vordergrund. Bemerkenswert ist das gute Fundament des Chores. Diese tiefen Bässe! Das ist ja bei dem Alter nicht selbstverständlich. Ständige Arbeit braucht die Homogenität und die Kraft des Soprans. Insgesamt ist der Kreuzchor ein Chor, der über ein reiches dynamisches Spektrum verfügt. Richtig gut ist seine Piano-Kultur.

Sie sprachen von einer bestimmten Singetradition.

Ja, jeder Knabenchor hat eine bestimmte Prägung, die immer wieder hervorkommen will. Die will ich auch zulassen und befördere sie, aber klar, auch ich habe heute andere Klangvorstellungen als vor zehn Jahren. Die besondere Herausforderung beim Kreuzchor ist die außergewöhnliche Vielfalt seines Repertoires. Das ist unsere Spezialität: Unser Repertoire reicht sozusagen vom 11. bis ins 21. Jahrhundert, ich erziehe die Jungs zu Flexibilität. Ein Kruzianer, der den Chor verlässt, sollte einen Überblick über die Jahrhunderte haben und wissen, was es bedeutet, den Epochen auch im Musizieren gerecht zu werden.

Eine Leipziger Gesangsprofessorin erzählte mir, sie habe etliche Kruzianer und Thomaner unter ihren Schülern. Was vielen für die angestrebte Karriere fehle, sei eine gute fremdsprachliche Ausbildung, mit Schwerpunkt auf den Sprachen, die fürs Opern- und Oratorienfach wichtig sind.

Eine solche Ausbildung kann der Chor nicht leisten. Am Kreuzgymnasium lernen die Kinder Englisch, vielleicht Latein. Aber italienisch? Ich versuche, ihnen das bei den Proben so gut wie möglich zu vermitteln. Aber eine echte Herausforderung waren zum Beispiel 2002 Messiaens „Trois petites Liturgies de la Présence Divine“.

Erstaunlich ist ja immer wieder, dass so wenige Kruzianer nach dem Abitur eine professionelle Musikerkarriere einschlagen.

Die Kruzianer erhalten hier eine Ausbildung, die ihnen möglichst alle Türen öffnet. Ich halte es auch gar für nicht für wünschenswert, dass mehr als ein Drittel in die Musik gehen, weil der Markt gar nicht so viele aufnehmen kann. Im Gegenteil: ich bin froh über die vielfältigen sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Begabungen der Sänger.

Stichwort Plattenaufnahmen: die letzte Aufnahme des Chors, bei der ein großartig aufgelegter Chor auf wunderbare Solisten traf, war eine ETERNA-Einspielung von 1976. Martin Flämig dirigierte das Weihnachtsoratorium, Peter Schreier sang den Evangelisten. Das war vor fast vierzig Jahren! Habe ich seitdem etwas Nennenswertes verpasst?

Die Musikszene war damals eine ganz andere. Der Markt war da noch bereit, das aufzunehmen. Heute ist das eine andere Zeit. Wir wissen, dass wir für außergewöhnliche Projekte gute Partner brauchen. Aber eine Aufnahme der Johannespassion von Homilius hat natürlich keine Breitenwirkung. Ich werde oft gefragt: warum macht ihr nicht mal das Brahms-Requiem auf CD? Da sage ich: Der Markt gibt das nicht her. Ich bin eher dankbar, dass wir mit Edel Kultur ein Nischenprodukt wie die Vespern aufnehmen konnten. Und mal ehrlich zum Weihnachtsoratorium: Ein Mitschnitt in der Kreuzkirche geht nicht. Wir müssten dafür in die Lukaskirche gehen, und wann bitte sollen wir das machen? Zu Weihnachten doch auf keinen Fall! Die Akzeptanz für Aufnahmen von Knabenchören hat sich ganz allgemein gewandelt. Die Referenzaufnahmen werden heute von Kammerchören in professioneller und semiprofessioneller Besetzung gemacht.

Ich habe Ihre Doku-Soap auf DVD geschaut und fand es furchtbar, den verehrten Kruzianern plötzlich zu schrecklicher Hintergrundmusik beim Zähneputzen zusehen zu müssen. 

Die positiven Effekte waren deutlich spürbar. Es gab sofort Eltern, die ihr Kind hier unterbringen wollten. Viele hatten die Anforderungen dann doch unterschätzt. Auch die Veranstalter haben es doch gemerkt: unsere Tourneekonzerte waren meist schon nach zwei Tagen ausverkauft und nicht erst nach einer Woche. Es wird da übrigens bald eine Fortsetzung geben, soviel kann ich schon verraten.

Die Thomaner haben sich ja auch gerade verfilmen lassen.

Ja, ich habe mir den Film angesehen. Den Gestus unserer Doku findet man wieder. Was Ehrlichkeit und Offenheit angeht, lassen die Thomaner ähnliche Prinzipien gelten. Wir haben das Fernsehteam ja bis auf ganz wenige geschützte Bereiche überall rangelassen. Die Leute sollen wirklich sehen, wie es bei uns zugeht, dass die Anforderungen hoch sind, aber dass die Jungen eindeutig davon profitieren.

Kommen wir zurück auf die Musik: in der CD-Box, die kürzlich vorgestellt wurde, findet sich „Geistliche Musik für ein ganzes Jahr“. Der Kritiker von »Musik in Dresden« bemängelte den „Interpretationsmischmasch“: ob Schütz oder Brahms, der Chor halte dieselbe Klangvorstellung durch.

Der Kreuzchor, wie er sich heute präsentiert, ist nicht unbedingt das geeignete Instrument, um Schütz nach den Prinzipien der Historischen Aufführungspraxis darzustellen. Bei einzelnen Aufnahmen haben wir schon differenziert: Brahms singen achtzig Sänger, bei Schütz und Schein eher vierzig. Wenn wir es „richtig“ machen wollten, müssten wir das mit sechs Sopranen machen, einen Altus einkaufen… Aber dann könnte ich den Chor eigentlich gleich nach Hause schicken, oder? Die Maxime heißt doch: Alle singen alles. Anders würden wir übers Jahr gar nicht die qualitativen Anforderungen erfüllen. Auch die Kleinen singen bei den Auftritten in der Kreuzkirche alles mit, das ist Teil des Ausbildungsprinzips. Dafür lässt man sie dann vielleicht bei CD-Aufnahmen weg. Aber die Erarbeitung des umfangreichen Repertoires steht im Vordergrund.

Jedes Jahr wieder spannend ist die Auswahl der Solisten, die der Chor begleitet. Haben Sie da Vorlieben oder ein Geheimrezept?

Im seltensten Fall singt mir jemand direkt vor. Ansonsten greife ich auf Empfehlungen von Kollegen zurück, sehe und höre mir viel an. Wir haben in Dresden kein Problem, hervorragende Sängerinnen und Sänger zu finden. Ich freue mich, wahrnehmen zu können, dass sich in der letzten Zeit auch wieder sehr gute ehemalige Kruzianer anbieten.

Verändert sich eigentlich Ihre ganz persönliche Sicht auf Werke wie das Weihnachtsoratorium von Jahr zu Jahr weiter, oder haben Sie mehr oder weniger zu Idealideen gefunden, denen sie versuchen möglichst nahe zu kommen?

Ich verfolge ja, was am Markt passiert, und denke seit Jahren: Es gibt doch nichts Neues unter der Sonne. Der eine macht es so schnell, der andere so… Aber von der geistigen und geistlichen Durchdringung des Werkes her hat sich in den letzten Jahren nicht viel Neues ergeben. Rhetorik und andere Fragen, zum Beispiel welche Funktion ein Choral hat, was verändert sich da? Ich weiß nur: Die Leute gehen in der Weihnachtszeit in diese riesige Kirche und wollen in das Erlebnis „WO“ eintauchen – und das will ich auch! Wenn der Chor lossingt: „Jauchzet, frohlocket“ und mit ganzer Seele drinnen ist – danach suche ich eigentlich das ganze Jahr über. Das ist ja eine musikpsychologische Frage: Wie schafft man es, heute die Empfindungen hervorzurufen, die das Stück zu Bachs Lebzeiten ausgelöst hat? Das Ende dieser Diskussion sehe ich nicht.

Ein wesentlicher Punkt scheint mir: Zu Bachs Lebzeiten kannte das „Weihnachtsoratorium“ fast niemand. Apropos zeitgenössische Musik: die hat beim Kreuzchor seit einiger Zeit wieder an Interesse gewonnen, oder?

Dieses Interesse hat es immer gegeben. Hier stehen uns auch in Zukunft interessante Projekte ins Haus. Wir sind im Gespräch mit den Dresdner Musikfestspielen wegen einer größeren Auftragskomposition. Solche Projekte gehören für mich zu den beglückenden Erlebnissen. Manche zeitgenössischen Werke sind den Jungen schwer zu vermitteln. Aber sie wissen schon, sie müssen da durch. Und sie vertrauen darauf, wenn ich sage, spätestens ab der Generalprobe gefällt es euch auch. Und bei der Aufführung sind die Kinder dann auch stolz auf das, was sie erreicht haben.

Sie werden den Kreuzchor bis zu Ihrer Pensionierung leiten. Worauf dürfen wir uns bis 2022 noch freuen – was kommt jetzt noch? Und woran wird sich die Nachwelt erinnern, wenn später einmal von „Nummer 28“ die Rede ist?

Im Grundsatz wird der Chor so bleiben, wie er ist. Die große Aufgabe jedes Kreuzkantors, auch der Nummer 28, ist, den ständigen Wechsel auszugleichen. Neue Nuancen im Klangbild ergeben sich ständig, das ist selbstverständlich. Ich persönlich habe noch ein Interesse daran, mich etwas ausführlicher in der Mehrchörigkeit, im Barock zu tummeln – mit allen Vorbehalten, die wir besprachen. Da sehe ich für mich eine Spielwiese der nächsten Jahre. Prinzipiell muss der Chor attraktiv erscheinen für Eltern, die ihre Kinder hierhergeben wollen. Wir reden hier von einer europaweiten Ausstrahlung. Wir werden die Situation haben, dass wir zum Beispiel mit Oxford verglichen werden. Können wir dem standhalten? Wenn ich in zehn Jahren den Chor übergebe, müssen die Strukturen stimmen, das Alumnat muss auf einem angemessenen Stand sein. Kurz: Ich möchte ein wohlbestalltes Haus übergeben.

Ich danke Ihnen, dass Sie sich so ausführlich Zeit genommen haben, ein aktuelles und umfangreiches Bild des Chors zu zeichnen.

Sehr gern.

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