„Schon wieder fällt ein November über mich her“, notierte die Komponistin Lera Auerbach einst in ihrem Online-Tagebuch. „Wie viele kommen noch? Gott weiß… Liegt das Glück in der Ahnungslosigkeit? Am Ende sterben wir; Leben ist die Kunst des Sterbens. Der Sand rieselt noch – die Gravitation ist immer in Betrieb.“
Während ein Autor solcher Zeilen anderswo zum genialischen Poeten stilisiert wird, hat Westeuropa – leider!, möchte man manchmal sagen – so seine Probleme mit öffentlich leidenden Künstlernaturen. Der tiefsinnige, mit Inbrunst geäußerte Gedanke läuft sofort Gefahr, ironisch relativiert und damit entwertet zu werden. Wir, das postmoderne Publikum, scheuen uns vor allzu empathisch vorgetragenen Plädoyers, vor dem Nachaußenkehren des eigenen Innersten, ja, vor dem Gefühl an sich. Zeitgenössische Kunst glänzt doch vor allem durch Reduktion, Negation, Konfrontation, Verweigerung – oder?
Die 1973 in Tscheljabinsk geborene Lera Auerbach ficht dies nicht an. Vor der nachtschwarzen, leidenschaftlichen Inbrunst hat sie keine Angst; das hebt ihr umfangreiches Œuvre von dem der staubtrockenen Kollegen ab und hat sie in den vergangenen Jahren zu einer der erfolgreichsten lebenden Komponistinnen werden lassen. Aber nicht nur das: Auf Russisch sind sechs Bände ihrer glutreichen Lyrik erschienen. Einzelne Gedichte rezitiert sie auch schon einmal als Zugabe nach einem Konzert – auf Russisch, mit tränenerstickter Stimme, geschlossenen Augen und weit ausholenden Gesten. Und ihre entfernt an Chagall erinnernden Ölgemälde sind in Privathand russischer Gönner.
Nun mag man fragen: Wächst die Bedeutung eines Werks wie Eterniday, aufgeführt im 4. Philharmonischen Konzert der Jenaer Philharmonie, wenn man erfährt, dass Auerbach die fertige Skizze der Komposition – nebst dem Flügel, auf dem sie lag – durch fiese Feuersbrunst verlor? Gewinnt ihr Dresdner Requiem (2012) durch die Stimmung des Orchesters auf eine Frequenz, in der unser Universum angeblich schwingt, an Format? Und sehen wir ihre kleine Plastik eines Vogelskeletts mit anderen Augen, wenn wir wissen, dass die Künstlerin das Manuskript ihres Fünften Streichquartetts am Tag der Fertigstellung rituell geschreddert und verbrannt hat und dem Vögelchen die Asche in den kleinen Schnabel rieseln ließ…?
Das alles formt sich zu einem runden und durchaus faszinierendem Auerbach-Bild, mag man nun an schwingende Universen, Voodoo, Wiedergeburt und so weiter glauben oder nicht. Lange musste das Publikum auf jemanden warten, der es aus dem faden, ermüdenden, sinnlos provozierenden Auf-der-Stelle-Treten der Neuen-Musik-Szene erlösen würde; und sei es ein Anhänger der schwarzen Romantik. Lera Auerbach ist diese Erlöserin, folglich reißt man sich nun um sie. Ihre Opern, Ballette und ihre Kammermusik werden dieser Tage in New York und Moskau, in Helsinki und Wien von den renommiertesten Ensembles gespielt.
Die Jenaer Philharmonie widmete Auerbach nur wenige Tage nach der Dresdner Uraufführung ihres Requiems gleich ein ganzes Konzert, das in ihrer Sinfonie Nr. 1: Chimera kulminierte. Als Auftragswerk für die Tonhalle Düsseldorf entstanden, wurde diese Sinfonie im November (!) 2006 unter der Leitung des aus New York stammenden Dirigenten John Fiore mit großem Erfolg uraufgeführt. Ein mystischer Kosmos an Assoziationen, Träumen, Stimmungen und Gefühlen spannt sich hier auf: Der bedrohlich stampfende Anfang gemahnt an Strawinsky; bald meint man aber auch Holst, Mahler und diverse russische Tonsetzer hinter der klangbrünstigen Partitur hervorlugen zu sehen. Die sieben Sätze strotzen von Einfällen. Der dritte etwa, „Gorgoyles“ betitelt: Die Jenaer Solocellistin Henriette Lätsch rast hier, wie von einem riesenhaften Katapult geschnellt, ins offene Feld davon; ihr folgen die tiefen Streicher, und nur Sekunden später droht das Ohr vor der ins filmmusikalisch riesenhafte gewachsenen Kulisse zu kollabieren. Das Theremin (Solistin: Carolina Eyck) singt rätselhafte Kantilenen, dazwischen stampft und brüllt das Blech… Ein apokalyptisches Inferno spannte sich in dem kleinen Jenaer Volkshaus auf; wer sich hier nicht stoisch an schwere Möbelstücke klammerte, wurde von dem Klangorkan weggepustet.
Ob der junge Londoner Dirigent Kevin Griffiths an diesem Abend in Jena seine klingende Bewerbung abgab, wollte die Intendanz nicht verraten. Vierundzwanzig Dirigenten waren ja ausgewählt worden, das nach dem Weggang von Nicholas Milton seit geraumer Zeit cheflose Orchester in den Anrechtskonzerten der letzten Monate anzuleiten. Griffiths umsichtiges, freundlich bestimmtes Dirigat bot dem Orchester noch in den tumultuösesten Passagen verlässlichen Halt. Für den einzigen Schwachpunkt des Abends – nämlich Lera Auerbachs Interpretation des d-Moll-Klavierkonzerts von Wolfgang Amadeus Mozart, die streckenweise völlig ziellos wirkte – konnte er nichts. Fast beruhigend, dass neuzeitliche Wunderkinder, diemit dem Kosmos auf du und du sind, als Mozart-Interpreten schlicht versagen. Das Publikum indes sah über die zahlreichen Verspieler der Solistin gnädig hinweg.
Lera Auerbach wurde in Tscheljabinsk (Ural) am Rande Sibiriens geboren. Im Alter von zwölf Jahren schrieb sie ihre erste Oper. 1991 zog sie in die USA und absolvierte ein Studium in den Fächern Klavier und Komposition an der New Yorker Juilliard School. Daneben studierte sie Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University.
2002 gab sie ihr Debüt in der Carnegie Hall, wo sie ihre eigene Suite für Violine, Klavier und Streichorchester op. 60 mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica aufführte. Seitdem ist die weltweite Karriere der Komponistin, Dichterin und Pianistin in Personalunion nicht mehr aufzuhalten. Die junge Komponistin ist bereits als Pianistin in Konzertsälen wie der New Yorker Carnegie Hall, dem Lincoln Center, dem Münchner Herkulessaal, im Konzerthaus von Oslo und im Kennedy Center Washington aufgetreten. Sie komponierte für Gidon Kremer, Vadim Gluzman, für das Ballett der Hamburgischen Staatsoper, für die Kremerata Baltica und andere. Ihre Werke wurden u.a. bei den Festivals in Aspen, Ravinia, Schwetzingen, beim Moskauer Herbst und beim Kammermusikfest Lockenhaus aufgeführt.
Lera Auerbachs Musik scheint vordergründig traditionellen Einflüssen stark verpflichtet zu sein. Für sie ist es kein Widerspruch, Tonalität und klassische Formsprache zu nutzen, um neue Wege zu finden. Bei näherem Hinhören eröffnet sich ein ganzer Kosmos ungewohnter Klänge, Farben und Verfahrensweisen, der in vielerlei Hinsicht einen weit entwickelten Personalstil prägt.
zuerst erschienen in: das Orchester 5/2012
Mit Genehmigung der SCHOTT MUSIC GmbH & Co. KG, Mainz – Germany