Heute müsste die Entscheidung fallen. Bleibt die Forsythe-Company in der Dresdner Residenz, in HELLERAU, dem Europäischen Zentrum der Künste, oder nicht? Die Vertragsverlängerung steht an, sicher bis Ende 2016, mit Option bis 2016. Dann wäre der Tanzweltmeister und Träger des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse fast siebzig.
Eigentlich sollte die Entscheidung schon am letzten Dienstag fallen, aber der Dresdner Stadtrat konnte und wollte sich nicht entscheiden. Einstimmig war nur die Entscheidung, den Beschluss zu vertagen. Viel Zeit bleibt nicht, denn wenn die Company weiter arbeiten soll, stehen die Vertragsverlängerungen mit den Tänzerinnen und Tänzern an.
Als die Forsythe-Company der Stadt Frankfurt zu teuer wurde, spannte man gewissermaßen einen Rettungsschirm auf: Dresden und Sachsen, Frankfurt und Hessen, als Residenzen und Aufführungsorte, Basissicherheiten für weltweite Aktionen, Gastspiele und so weiter. Für Dresden, im Rahmen der „Rettungsschirmvereinbarungen“ und des Hauptstadtkulturvertrages bedeutet das jährlich eine Summe von 1,5 Millionen Euro. Weil der Ausbau in Hellerau noch immer nicht fertig ist, fehlen Unterkünfte und Arbeitsräume – also kommen für Dresden pro Jahr noch mal mindestens 200.000 Euro dazu.
Unumstritten war dieser Rettungsakt für die Company nie. Zunächst aber konnte man den Kritikern entgegen halten, Dresden gewinne internationales Ansehen, und dann kamen ja auch die Zuschauer ins Festspielhaus auf dem grünen Hügel der Moderne, auf dem es ja noch vor ein paar Jahren nicht gerade gut aussah mit den Angeboten des modernen Tanzes. Das hat sich enorm geändert. Und dem Anschein nach ist der frische Wind, den das neue Team um Dieter Jaenicke entfacht hat, noch längst nicht abgeflaut.
Inzwischen machen die angesagtesten internationalen Companyen Station hier: zwei oder mitunter auch drei Aufführungen, oftmals wirklich gut besucht, decken so auch wahrscheinlich die Bedürfnisse der Anhängerschaft dieser Kunst in Dresden ab. Hinzu kommen Angebote kleinerer Formate, die vor allem den Tänzerinnen und Tänzern der Dresdner freien Szene zugutekommen.
Mit Beginn der Direktion Aaron S. Watkins beim Semperoper Ballett wurde das Repertoire kontinuierlich um zeitgenössische Kreationen erweitert. Bestes Beispiel ist der jüngste Ballettabend „Les Ballets Russes – Reloaded“ mit einer bedeutenden Erstaufführung und zwei bemerkenswerten Uraufführungen. Forsythes „Klassiker“ sind wesentliche Stücke im immer reicher und vielfältiger werdenden Repertoire der Klassik, der Neoklassik und der Moderne, und international genießt das Semperoper Ballett in Sachen Forsythe hohes Ansehen.
Also genug Forsythe in Dresden?
Die Frage lässt sich so einfach nicht beantworten. Forsythe ist nicht Forsythe, der Tänzer und Choreograf war und ist immer wieder für Überraschungen gut. Was er mit seiner jetzigen Company entwickelt, hat nur bedingt mit seinen Arbeiten zu tun, die im Repertoire des Dresdner Balletts und anderer Truppen weltweit befinden, sofern sie die enormen technischen und künstlerischen Ansprüche erfüllen können.
Forsythe in Hellerau – das ist immer wieder die Gratwanderung zwischen Choreografie, Performance, Improvisation oder Versuchsanordnung bis hin zur aktiven Beteiligung der Zuschauer. Das ist natürlich nicht alles neu. Warum auch. Aber, und das zeichnet Forsythes Kreationen und die seiner Tänzerinnen und Tänzer aus, selbst der Ärger über einen Abend, den man kopfschüttelnd verlässt, provoziert unter Umständen kreative Ablehnung.
Das kostet Geld, bringt aber nicht immer die großen Zuschauerzahlen in Dresden. Und schon sind die Rechner am Werk; auch hier, bei »Musik in Dresden«. Es fällt schwer, ihnen ihre Argumente streitig zu machen. 1,5 Millionen Euro plus Spesen in Höhe von 200.000 Euro pro Jahr – für das Jahr 2009 bedeutete das in der Gegenrechnung bei 25 Aufführungen 3013 Besucher, also rund 120 pro Vorstellung. Ob in den folgenden Jahren die Tendenz wieder steigend war, konnte ich so rasch nicht ermitteln. Das alte Thema: die Kunst und die Zahlen…
Und wenn der Stadtrat wirklich nein sagt, gibt es dann in Dresden weniger modernen Tanz und keine Gastspiele der Forsythe Company mehr? Davon kann ja nicht die Rede sein, sagen die Befürworter der Vertragsaufkündigung. Der Gastspielkalender in Hellerau ist gut gefüllt für die kommende Saison und was würde sich ändern, gehörten dann auch regelmäßige Gastspiele der Forsythe Company dazu. Die Frage bleibt aber: wo sollen diese entstehen, bevor sie um die Welt gehen, mitunter bis jetzt sogar von Dresden aus, so wie einst – worauf man ja noch immer so stolz ist – von Dresden, insbesondere von Hellerau aus, Ideen für den Tanz um die Welt gegangen sind?
Ganz gleich, wie sich der Stadtrat entscheiden wird: ab 30. August wird Forsythe in Hellerau seine fast 40 Meter lange weiße Hüpfburg aufblasen lassen. Da darf dann jeder rein und mit hüpfen (Stöckelschuhe verboten). Diesmal ist auch die Ankündigung nicht ganz so verrätselt wie sonst, einfach mit hüpfen, ohne philosophische Begründung, Anleitung zur Erforschung oder so. Es könnte sich bei den Hüpfenden sogar Euphorie entwickeln, die soll ansteckend sein und sogar süchtig machen, bestenfalls süchtig nach Forsythe.
Ach, da hat das Management leider kräftig versagt. Was, wenn die „White Bounce Castle“ heute schon in Hellerau aufgeblasen wäre, der gesamte Stadtrat erst mal einen kostenlosen Hüpfausflug unternähme, völlig euphorisiert und mit Suchtattacken ins Rathaus zurückkehrte und in schönster Sucht nach Einstimmigkeit verkündete, Hüpfen mit Forsythe, das wollen wir! Das muss Dresden pro Jahr mindestens 1,5 Millionen plus Spesen wert sein! Ach was, wir geben noch was drauf, denn ob die Dresdner pro Hüpfgang, für jeweils 15 Minuten, drei Euro bezahlen, oder nicht, das bringt nun auch nicht mehr so viel, Forsythe bleibt und jeder kann 15 Minuten lang frei hüpfen, vor Freude oder um sich den Ärger weg zu hüpfen: Hüpfen für alle!
Herzlich bis Montag,
Boris Gruhl