Es muss 1955 oder 1956 gewesen sein. Meine Großeltern, begeisterte Philharmoniehörer wie viele ihrer Kommillitonen der Technischen Universität, hatten erfahren, dass an diesem Tag der Konzertplan der nächsten Spielzeit unter Mitwirkung der Dresdner entstehen solle. Neugierig spazierten sie zur Villa "San Remo" auf dem Weißen Hirsch. Statt eines Saales voller Gleichgesinnter erwartete sie – ein Kaffeetisch. An dem saßen: Chefdirigent Heinz Bongartz, der Komponist Johannes Paul Thilmann (vielleicht war eine Uraufführung von ihm geplant?) und ein noch nicht dreißigjähriger Jungspund: Kurt Masur. Ehrfürchtig, ein bisschen eingeschüchtert nahmen meine Großeltern Platz, und dann planten "die Herren" die Spielzeit…
"Ihrem" Orchester und natürlich Masur haben die beiden all die Jahre die Treue gehalten. Auch Masur spricht noch oft und gern von "seinen Dresdnern" – das Orchester, das er bereits 1955-1958 und ab 1967 als Chefdirigent leitete, verehrt ihn bis heute und hat den Jubilar für die Spielzeit 2012/13 zum Artist in Residence gemacht. Masur wird sieben Beethoven-Sinfonien dirigieren und aufnehmen: ein musikalisches Erbe ist zu erwarten, ein "Opus summum".
Bis dahin können sich meine Großeltern mit ein paar Neuerscheinungen die Zeit vertreiben. "Kurt Masur – Der Maestro" wird ihnen nur ein müdes Lächeln entlocken. Diese CD ist nicht mehr als ein krudes Sammelsurium von neun unterschiedlichen Tracks aus den Jahren 1970-1984; das "Kyrie" aus Beethovens Missa Solemnis mit dem Gewandhausorchester findet sich da, vier Sätze von Tschaikowski, Prokofjew, Haydn, Ravel mit der Dresdner Philharmonie… Ein letzter Rest vom Schützenfest ist das, nicht mehr.
Sehr viel eindrücklicher, spannender und tiefgründiger ist eine großartige Doppel-CD, eine Koproduktion mit dem MDR: "Auf den Flügeln des Gesanges" ist sie betitelt. Eine Scheibe vereint die 1972 von Peter Schreier und Walter Olbertz aufgenommenen Mendelssohn-Lieder; eine zweite bietet den Mitschnitt eines kurzweiligen Gesprächs von Masur, Schreier und dem – nach eigenem Bekunden – "Weimaraner" Peter Gülke. Anlässlich des Mendelssohn-Jahres 2009 hatte der Komponist den Sänger und den Musikwissenschaftler nach Leipzig eingeladen; persönliche Erlebnisse und historische Erörterungen runden sich zu einem wunderschönen, wenn auch sehr subjektiven Portrait des Liedkomponisten Felix Mendelssohn – zum Preis von nicht einmal 7 Euro.
Wer die frühen und mittleren, sozusagen die "mitteldeutschen" Jahre der einzigartigen Dirigentenkarriere Masurs noch einmal akustisch Revue passieren lassen möchte, greife zu der 13-CD-Kiste der Legendary Recordings, die vor zehn Jahren anlässlich seines 75. Geburtstages bei edel classics erschienen ist. Viel Erinnernswertes findet sich da: Mozarts, Griegs und Chopins Klavierkonzerte mit Annerose Schmidt. Schumanns "Genoveva" mit Siegfried Lorenz, Dietrich Fischer-Dieskau, Edda Moser, Peter Schreier, Gisela Schröter (1978). Ein traumhaftes Schumannsches Cellokonzert und traumwandlerische Rokoko-Variationen mit dem Gewandhaus-Solocellisten Jürnjakob Timm. Schumanns und Tschaikowskis Klavierkonzerte mit Peter Rösel. Eine grandiose "Siebte" Mahlers mit dem Gewandhausorchester. Und vieles mehr…
Natürlich erscheint auch zum heutigen Ehrentag eine klingende Geburtstags-Sonderedition: Berlin classics veröffentlicht erstmals den kompletten Live-Mitschnitt vom Eröffnungskonzert des Neuen Gewandhauses im Oktober 1981, angereichert mit einem Live-Mitschnitt, der nur wenige Wochen später im neuen Hause entstand: der "Sinfonie für zwei Welten" des kürzlich verstorbenen Minoru Miki.
Auch wir rufen: Herzlichen Glückwunsch, Maestro!