Das moralische Leitbild des Musicals „Die Schöne und das Beast“ verdanken wir einer Gouvernante. Jeanne-Marie Leprince de Beaumont, im 18. Jahrhundert in Schweizer Herrschaftshäusern angestellt, veröffentlichte in einer Zeitschrift für Kindererziehung einen „Dialog zwischen einer weisen Gouvernante und ihren Schülern“. Ein anmutiges junges Mädchen wird dyort vorgestellt; es liest „gute Bücher“ und wird das Herz ihres Liebsten später erobern, indem es ihm antike Sagen nahebringt. Einen eitlen Gockel hat sie dagegen abblitzen lassen. Bücher verdürben die Frauen, argumentierte der, sie gäben ihnen nämlich Ideen…
Mit Druckerzeugnissen darf man freilich jungen Menschen heute nicht mehr kommen. Wie Kerzenleuchter, Porzellankannen, Ankleide-Kommoden und Kaminsims-Uhren entstammen sie einer anderen Zeit. Erstaunlich also eigentlich, dass ein Disneyfilm, der vor zwanzig Jahren in die Kinos kam, einen solch atemberaubenden Erfolg hatte: „Die Schöne und das Beast“ hat bis heute eine knappe halbe Milliarde Dollar eingespielt. Das Geheimnis lag und liegt nicht in der ziemlich lahmen Story, den Dialogen oder den Schauspielern. Es liegt in der Musik.
Naheliegend war es also, die Sache noch einmal für den Broadway aufzugießen. 1994 hatte „Beauty and the Beast“ dort Premiere, und lief erfolgreich bis 2007. Über fünftausend Mal verzauberte die schöne Vorleserin ihren verwunschenen Prinzen. Und über fünftausend Mal scherte sich offenbar niemand um die schreiende Widersinnigkeit, die in dieser Produktion verborgen liegt: „Lass dich nicht von Äußerlichkeiten leiten!“ ist die Nachricht, die uns eine wunderschöne junge Frau und ein wenigstens am Ende wunderschöner junger Mann Hand in Hand zurufen, während die sommersprossigen, aber hasenzähnigen Dorfschönheiten beim Angebeteten sauber abblitzen.
Nein, nachdenken darf man nicht, nicht während Personen die Bühne bevölkern, denen ihr herzensguter oder alternativ bitterfieser Charakter noch vom letzten Rang so überdeutlich von der Nasenspitze abzulesen ist wie nur irgendwas. Zum Nachdenken war schließlich auch das Premierenpublikum am Freitag nicht in die Semperoper gekommen: genießen wollte man, feiern, das schöne Kleid ausführen, Champagner süffeln! Und diese Musik hören, die ein Mann namens Alan Menken erdachte, und die einem tatsächlich tagelang nicht aus dem Kopf gehen will, die man beim Zähneputzen summt und auf dem Fahrrad. Eingängige Melodien, komponiert wie Hausmannskost: von allen Zutaten ein bisschen mehr als erlaubt und gut ist, vor allem viel gute Butter, und dann in großen Portionen serviert. Für die Kenner noch ein paar augenzwinkernde Zitate aus der Musikgeschichte eingebaut – so kämpft sich etwa eine „Madame de la Grande Bouche“ zu Walkürenklängen durchs Zauberschloss – fertig, und bitte heiß servieren!
So ist nun die Lizenzproduktion des Budapester Operetten- und Musicaltheaters des Broadway-Musicals des Disney-Films des Gouvernanten-Textes über das Kunstmärchen vom Volksmärchenstoff von Verwandlung und Rückverwandlung durch Liebe bis Ende Juli in der Semperoper zu sehen. Rasante, teilweise auch sehr amüsante Choreographien von Éva Duda; eine Drehbühne mit charmanten, wenn auch etwas wackeligen Aufbauten von István Rózsa und farbenprächtige Kostüme, die wie alles andere überdeutlich auf der erfolgreichen Filmvorlage basieren, machen den Abend zum konsumfreundlichen Ereignis, ohne sängerische Schwächen, ohne technische Macken. Jede Hauptrolle ist dreifach besetzt; und die Produktion, die demnächst in Mannheim, Wien, Frankfurt und Baden-Baden zu sehen sein wird, somit gegen alle Eventualitäten abgesichert.
Richtig schade ist dabei nur eins: dieses sympathische, dyslexische, mit allen Wassern gewaschene zynische Biest, dessen leises Knurren schon alle Tassen im Schrank erzittern lässt, das im lässigen Fetzenmantel durch die Flure wetzt und sich die ganze Welt über einen coolen Zauberspiegel ins Wohnzimmer holt – es wird am Ende in einen gelackten, langweiligen Prinzen verwandelt. Haben wir das wirklich gewollt?
Termine: www.die-schoene-und-das-biest-musical.de
Eine Textfassung des Artikels ist am 16. Juli in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.