Müssen wir Abschied nehmen vom Spitzenschuh? Für den Tanz in den freien Szenen mag das klar sein, da man hier mitunter an Orte geht, deren Qualitäten des Bodens oder der wo auch immer eroberten Tanzfläche es einfach nicht zulassen würden, dass sich Tänzerinnen in Spitzenpositionen begeben könnten, Tänzer weit ausgeführte Sprünge absolvieren oder sich im Pirouetten-Wahn drehen könnten. Aber sollte der Spitzentanz als klassische Disziplin auch so nach und nach von den Bühnen der verbliebenen Mehrspartenhäuser verschwinden?
Aufmerksam wurde ich anhand eines Textes in der Tageszeitung „Die Welt“. Unter der Überschrift „Abschied vom Spitzenschuh“ wird nachgewiesen, dass im tanzfreudigsten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, zeitgenössische Tanzensembles das klassische Ballett fast gänzlich verdrängt hätten. In NRW findet ab heute die Tanzmesse statt; aller zwei Jahre, seit 1994, die Angebotsschau dessen, was im Bereich Tanz so zu haben ist. Und gerade ging das größte deutsche und drittgrößte Tanzfestival Europas „Tanz im August“ in Berlin zu Ende, natürlich auch ohne Spitzentanz, aber leider auch wie man inzwischen vernehmen kann, ohne wirkliche Spitzenleistungen der freien Tanzkompanien, deren Bewegungsrepertoire sich inzwischen als recht eingeschränkt, mitunter auch beschränkt, vor allem kaum noch innovationsfähig erweist. Es sei denn es handelt sich um die Ausnahmeerscheinungen so festivalkompatibler wie festivalvernetzter Superkompanien von Anne Teresa De Keersmaeker, Sidi Labri Cherkaui, Akram Khan, Hofesh Shechter und noch immer das Tanztheater aus Wuppertal mit der Pflege des Erbes von Pina Bausch, um ein paar Beispiele zu nennen. Diese sind dann aber auch auf so gut wie allen angesagten Festivals anzutreffen, je nach Geschmack oder Zuneigung der Kuratoren kann man Constanza Macras auch noch antreffen.
Ansonsten aber sind die Felder weit. Am weitesten für Solistinnen, kleine Kompanien, was sicher auch an den schmalen und schmaler werdenden finanziellen Möglichkeiten liegt. Dennoch, die freie Tanzszene funktioniert, sie ist, liest man den angeführten Text, auf dem Vormarsch. Ein Phänomen? Eine ganz neue Möglichkeit der Identifikationsmöglichkeiten auch im Tanz zwischen Bühne und Parkett, bzw. zwischen Ausführenden und Auserwählten?
Mitunter scheinen ja Darbietungen vor allem deshalb so gut zu funktionieren, weil die andächtige Zuschauergruppe gerne bei den Protagonisten wiedersehen möchte – und auch selten enttäuscht wird – was man selbst in Workshops und Selbsterfahrungstrips, am Meer, im Hochgebirge oder wo auch immer als schweißfeuchte Tanztherapie in Socken erfahren oder erlitten hat.
Tanzen kann jede, und jeder inzwischen auch. Alles performativ. Also warum denn lange und harte Ausbildungen? Private Schulen, Workshops von Meisterinnen und Meister bieten da ganz neue Möglichkeiten, alles ist Bewegung, alles ist Tanz. Dem inneren Antrieb gilt es zu folgen, wenn der gerade mal Pause macht, dann bleibt man stehen und spielt einen Film ein, dreht die Musik lauter oder fängt an, sein Leben zu erzählen, um genau an der Stelle anzukommen, wo es eben nicht mehr weiter geht. Sieht denn keiner, wie schlecht es mir jetzt geht? Wird eine Produktion als zeitgenössischer Tanz bezeichnet, ist das schon mal ein Pluspunkt. „Klassisch“ wird schon mal ganz schnell und pauschal als konservativ, altmodisch, unmodern und überholt bezeichnet. Das ist Quatsch. Es wird weder der einen noch der anderen Richtung gerecht.
Karikatur? Nein, Erfahrungswerte. Leider. Aber auch das sind Erfahrungswerte: ob eine Sache im Tanz spitzenmäßig ist, hängt nicht davon ab, ob Tänzerinnen Spitzenschuhe tragen, ihre klassischen Techniken perfekt präsentieren oder ob sie auf blanker Sohle, halber Spitze, in Sportschuhen, Stiefeln oder verschwitzten Socken tanzen. Oder wie ist es zu erklären dass gerade die Spitzentruppe des Choreografen Martin Schläpfer der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf zu den derzeit erfolgreichsten Kompanien gehört? Schläpfer lässt seine Tänzerinnen auch, oder gerade, in Spitzenschuhen, sehr zeitgenössisch tanzen, gilt ebenso für die Tänzer seiner Kompanie, die hier ohne klassisches Können nichts zu suchen hätten. Jüngst feierte der niederländische Choreograf Hans van Manen seinen 80. Geburtstag. Ob mit oder ohne Spitzenschuh: keine Staubschicht auf seinen Kreationen!
Sicher in totaler Wiedererkennbarkeit, dennoch ein Phänomen, John Neumeier und sein Ballett in Hamburg. Immer wieder reißt hier das längst totgesagte Handlungsballett die Zuschauer mit. Und wenn hier, wie vor einiger Zeit, die zerbrechliche Alina Cojocaru mit dem an der Palucca Schule in Dresden ausgebildeten Ausnahmetänzer Carsten Jung in „Liliom“ nicht nur äußerlich auf die Spitze gehen, dazu die NDR Bigband spielt, dann beweist der Tanz in klassischer Grundierung seine ungebrochene Lebenskraft. Der Spitzenschuh gehört dazu.
Dass die alleinige, einseitige Orientierung aufs klassische Erbe im Ballett in die ästhetische Sackgasse führen kann, beweist leider die langjährige Spielplan- und Repertoirekonzeption des gut ausgestatteten Berliner Staatsballetts. Es würde sich lohnen, nach Stuttgart und München zu sehen, vor allem aber wie es gelingt die klassischen Disziplinen in kleineren Kompanien zeitgemäß zu präsentieren, sofern sie nicht inzwischen abgewickelt worden sind. Ob es wirklich eine Errungenschaft ist, dass dort, wo einst Kompanien von Bedeutung mit dem freien Tanz produktiv konkurrieren konnten, das Feld allein den Freien überlassen wurde, scheint inzwischen fraglich.
Wir hängen ja auch nicht in den Museen alle „klassischen“ Werke ab, spielen in den Opernhäusern anstelle der Klassiker nur noch zeitgenössisches Musiktheater.
In Dresden leistet sich der Freistaat eine Staatsoper, eine Staatskapelle und ein Ballett. Zugleich gibt es mit Hellerau, dem europäischen Zentrum der Künste, den inzwischen etablierten Ort für die Gastspiele angesagter Tanzkompanien der internationalen Festivalszene.
Mit kleineren Spielstätten in der Neustadt und der Reihe »Linie 08« hat die freie Tanzszene Dresdens etliche Möglichkeiten für Auftritte. Über mangelnde Probenräume wird geklagt. Das sollte man als gutes Signal verstehen, deutet es doch darauf hin, dass die Szene aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht ist, dass vielleicht ein so offen wie frei konzipierter Zusammenschluss wie „TanzNetzDresden“ es vermag Konkurrenzen in künstlerische Bahnen zu lenken.
Und wie der Zusammenklang funktionieren kann, nämlich Klassik und Moderne, ohne Abschied vom Spitzenschuh, zeigt das Repertoire des Semperoper Balletts. Vergleichbar mit dem Konzept einer sensibel kuratierten Galerie, in der Zeitbezüge und technische Wandlungen der Bildenden Kunst nachvollziehbar werden, werden hier die ästhetischen und technischen Wandlungen der Tanzkunst miteinander verbunden.
Keine Frage, dabei ist der Einfluss eines choreografischen Genies wie William Forsythe nicht zu unterschätzen. Er kommt aus der neoklassischen Schule eines John Cranko in Stuttgart, er kennt sich aus in den technischen Raffinessen des abstrakten, geometrischen Ästheten George Balanchine und konnte so, zunächst mit dem Spitzenschuh, den Ausdrucksradius des Balletts enorm erweitern und heranführen an die Formen neuer Erkundungen der Körpersprache, auch solche, die des Spitzenschuhs nicht bedürfen. Im Grunde aber bleibt Forsythe, auch in den Arbeiten mit seiner Company, dem grundsätzlichen Antrieb des Balletts treu, die Erweiterung der körperlichen Ausdrucksmöglichkeit in den Beziehungen zum jeweiligen Raum unter Einbeziehung sensibler Wahrnehmungen aktuellen Geschehens. Das kann dann schon zu seinen berühmten Verknotungen der Körper führen. Eine solche Entwicklung macht den klassischen Tanz nicht überflüssig, im Gegenteil. In einem der für mich faszinierendsten klassischen Ballette, in Adolphe Adams „Giselle“, verführen Liebe und momentaner Überlebenswille ein todkrankes junges Mädchen dazu, die bislang bekannten Möglichkeiten körperlicher Ausdruckskraft tänzerisch, in Spitzenschuhen, zu überwinden.
Fazit: Der Abschied vom Spitzenschuh wäre eine ästhetische Katastrophe. Die ist in Dresden nicht in Sicht, der Blick auf die Ankündigungen der neuen Tanzsaison an den Dresdner Tanzorten belegt das. In der Semperoper wird die Saison mit dem Spitzenklassiker „La Bayadère“ eröffnet, „Schwanensee“, „Coppélia“, „Der Nussknacker“ bleiben im Repertoire. Über den zeitgenössischen Einsatz des Spitzenschuhs geben so fulminante mehrteilige Programme wie der Forsythe-Ballettabend oder die Hommage an die russischen Revolutionäre des Tanzes „Les Ballets Russes-Reloaded“ Auskunft.
Eine der erfolgreichsten Kreationen des letzten Jahrhunderts „Bella Figura“ von Jiří Kylián steht im Mittelpunkt der ersten Ballettpremiere und der belgische Choreograf Stijn Celis, der für so expressive wie subtile Bewegungssprache steht, wird „Romeo und Julia“ als Handlungsballett zur Musik von Sergej Prokofjew neu interpretieren. Junge Tänzerinnen und Tänzer stellen sich als junge Choreografen in der gläsernen Manufaktur vor und werden wieder Künstlerinnen und Künstler der freien Dresdner Szene einbeziehen.
In Hellerau wird Constanza Macras ihre neueste Produktion zeigen. Außerdem wird hier in dieser Saison erstmals die weltberühmte Batsheva Dance Company aus Israel in Dresden gastieren. Ihr Chef Ohad Naharin erarbeitet mit dem Semperoper Ballett sein Erfolgsstück „Minus 16“. Für die freie Tanzszene sind etliche Termine im Rahmen der Reihe „Linie 08“ reserviert. Und in völliger Freiheit sind Tänzerinnen und Tänzer eingeladen, in einer neuen Reihe des projkettheaters einmal monatlich, an einem Montag, Improvisationsabende zu gestalten. Es wird ihnen frei stehen, in welcher Technik, in welcher Tradition, sie diese Formen der Freiheit nutzen.