Christian Thielemann, Sie bezeichnen sich gern als „Kapellmeister“ – in meinen Ohren ein sehr handwerklicher Begriff. Aber Sie arbeiten mit dem Orchester wie mit dem Publikum auch auf sehr suggestive Art.
Handwerk und Suggestion müssen Hand in Hand gehen, das haben Sie schon richtig bemerkt. Aber das Handwerkliche kommt zuerst und ist natürlich unabdingbar. Wissen Sie, ich erlebe jetzt bei Proben mehr und mehr interessante Dinge: dass mich beispielsweise eine Solistin bittet, die Dinge am Klavier noch einmal durchzugehen, weil man offenbar nicht mehr gewohnt ist, die Dinge im Orchester zu regeln. Bevor wir überhaupt etwas angespielt haben, heißt es: das Tempo aber bitte so und so. Dann sage ich mir: Mensch, sing doch überhaupt erst mal! Ich bin ein Dirigent, der mitgehen kann! Es wird heute vieles zerredet, anstatt es einfach zu tun. Aus dem Orchester der New Yorker Metropolitan Opera hörte ich vor fünfzehn, zwanzig Jahren mal den wunderbaren Satz: „Don’t talk about it. Just do it!“ So ist es: nicht drüber reden. Einfach machen. So ergibt sich das meiste von selbst. Theoretisches Wissen ist wichtig, aber kein Allheilmittel.
Sind die bekanntesten Dirigenten eigentlich die begabtesten? Wovon hängen Karrieren noch ab?
Es gibt ja eine Fülle von großartigen Begabungen. Aber durch eigene Dummheit – weil sie zu viele Engagements annehmen – und durch den Betrieb – zerfasern die sich. Es gibt eine Fülle jüngerer Leute, aber der gesamte Betrieb greift nach den Menschen… Was hab ich schon für Angebote bekommen, wo ich gedacht habe: das ist schlicht und ergreifend unprofessionell! Mit dem Privatflugzeug von A nach B und abends wieder zurück, nur um eine Orchesterprobe zu machen – darauf habe ich einfach keine Lust.
Wenn ich mir etwa Ihren Kollegen Valeri Gergiev ansehe: dreißig Nächte hintereinander am Pult in St. Petersburg, dazwischen Kurzreisen nach Salzburg…
Ich sage Ihnen: das geht momentan auch wieder in eine andere Richtung. Ich bin sehr gut bekannt mit Andris Nelsons. Wenn wir uns unterhalten, merke ich bei ihm schon ein Nachdenken: Wenn auf einmal die Karriere losgeht und alle nach dir greifen und dich fix und fertig machen, sagt man irgendwann: so kann ich das nicht, so leidet die Qualität. Was wir – Sie und ich – zu Recht beklagen, ist, wenn es tolle Leute gibt, die leider immer wieder unter ihren Möglichkeiten bleiben. Das ist doch schade! Das kommt durch diese irren Flugzeug-Geschichten: Wenn ich morgen an der Met einspringen will, bin ich da, gar kein Problem. Die Frage ist aber, ob ich da morgen gut bin? Aber das ist womöglich nebensächlich… Das hat auch etwas mit Kapellmeistertum zu tun: professionelles Benehmen. Weniger ist mehr!
Wenn Sie nach dem Konzert noch mal aufs Podium springen und den Applaus richtig herauskitzeln… Das gehört doch auch zum Business, oder nicht?
Nein, das mach ich nicht. Ich bin kein Schauspieler, das hat mir oft auch Schwierigkeiten gemacht. Ich bin, wie ich bin, auch wenn mir gelegentlich anderes unterstellt wird. Menschen, die mich besser kennen, wissen aber: Der ist wirklich so. Beim Dirigieren muss man authentisch sein.
Aber ein bisschen „abrunden“ kann man die Sache hinterher schon, oder?
Klar, das gehört dazu. Aber es darf nicht einstudiert sein, muss aus der Natürlichkeit kommen. Natürlich soll sich beides miteinander vermählen! Das Publikum hat aber ein untrügliches Gespür, wenn etwas aufgesetzt ist. Bei mir kommen viele Dinge spontan. Wenn ich mich wohl fühle, dann fallen die Hemmungen.
"Ich kann's manchmal nicht mehr genießen…"
Finden Sie hier in Bayreuth noch ein paar private Minuten, oder ist alles Wagner, Wagner, Wagner?
Nach der Abendprobe gehe ich mit den Assistenten etwas trinken oder alleine nach Hause, esse eine Forelle – und lese. Ich habe jetzt die Erinnerungen von Furtwänglers Sekretärin noch einmal gelesen, mache mir so meine Gedanken… Gehe mal eine Stunde zu den szenischen Proben, denke über die Tempi nach… Da ist man einfach wohlgelaunt. Darf doch sein, oder? Da trinkst du noch ein Weinchen am Abend, schläfst gut… Was glauben Sie, was man da für eine Lust hat zu arbeiten!
Wenn Muße und Arbeit so verschwimmen… das hört sich verlockend an.
Ich habe aber – zugegeben – viele Freunde, die nichts mit diesem Beruf zu tun haben. Sie sind aus ganz anderen Sparten. Ich habe – ganz egoistisch – keine Lust, in meiner Freizeit über Musik zu reden. Wenn ich gefragt werde: worüber unterhaltet ihr euch denn? Dann sage ich: auf keinen Fall über unsere Büros… Geht Ihnen das nicht auch so?
Hm. Die Grenzen sind fließend. Wenn ich ein Konzert als Rezensent höre, rede ich hinterher oft noch mit Freunden über die Eindrücke.
Also, am Abendbrottisch reden Sie noch über Musik?
Das kommt vor.
Na wie schön.
Ich bin ja noch jung, ich genieße eigentlich jedes Konzert.
Sehen Sie. Ich kann’s manchmal nicht mehr genießen. Ich bin auch nicht der Auffassung, dass man sich bei Musik entspannt. Es ist eine hoch spannende Angelegenheit, sicher, die mich auch mitnimmt… Wissen sie, was ich vorhin gehört habe? Ich habe mir im Auto von Alfred Cortot ein paar wunderbare Chopin-Préludes angehört. Das ist ein Spiel, was mir sehr gefällt: klar und trotzdem verhangen, sehr subjektiv… sehr logisch…
In welchem Konzert waren Sie zuletzt?
Auweia, böse Frage. War das in Dresden? Ich gehe so selten ins Konzert, da kann ich nicht abdrehen. Ich kann ja auch schlecht aufstehen und gehen; dann denken die Leute, es hätte einem nicht gefallen. Und hinterher muss man die Honneurs machen, dem Kollegen sagen, wie gut es war. Wenn Sie so wollen, war ich vorhin in meinem Auto im Konzert bei Alfred Cortot. Ich kam dazu, weil ich eine späte Aufnahme von ihm hörte, wo er furchtbar danebenhaut, aber eben sehr expressiv spielt. Das war beeindruckend…
In Dresden treten Sie nun Ihr neues Amt an. Sie kommen quasi in eine geteilte Stadt: die Dresdner Philharmonie auf der einen, die Sächsische Staatskapelle auf der anderen Seite der musikalischen Wasserscheide.
Warum eigentlich?
Tja. Es gibt beispielsweise viele Solisten und Dirigenten, die nur mit einem der beiden Orchester auftreten…
Komisch, ja. Ist in Berlin, in Wien auch so: wer mit den Symphonikern konzertiert, geht nicht zu den Philharmonikern. Ich weiß gar nicht, ob es nicht auch von den Orchestern so gewünscht wird? Gut, bei Georges Prêtre lief es andersherum: er war oft bei den Symphonikern und ist dann von den Philharmonikern adoptiert worden. Vielleicht liegt es auch an den Besetzungsbüros. Das mag eine Markengeschichte sein… Vielleicht ist da auch eine Konkurrenzsituation?
"Ob Weltklasseorchester zu Gast in den Kulturpalast kommen?"
Allein zur Spielstätte der Philharmonie, die ja früher auch die Kapelle beherbergte, scheinen Staatskapellhörer heute ein gespaltenes Verhältnis zu haben.
Man muss in Dresden sehr aufpassen mit diesem Kulturpalast: für einige Leute ist das eine heilige Kuh. Ich finde: er passt da städtebaulich überhaupt nicht hin. Ich hätte mir gewünscht, man hätte – jetzt, wo man die Altstadt so schön wiederauferstehen lässt – über eine ganz andere Lösung nachgedacht. Da bekommen Sie wütendste Gegenreaktionen, ähnlich wie beim Palast der Republik in Berlin. Was heißt hier eigene Identität? Man darf doch mal sagen, dass man etwas vor zwanzig Jahren anders empfunden hat. Ich nehme die Tempi heute auch anders als damals. Warum sagen Sie nicht: gut, ich habe diesen Palast einmal vergöttert, aber jetzt, wo die Altstadt daneben wiederersteht, könnte ich mir ja fast radikale Lösungen vorstellen… Kinder, seid doch mal flexibel! Ich finde die Idee, da so viel Geld reinzustecken, nicht so ganz glücklich. Aber ich bin ja von der anderen Seite, es betrifft mich ja nicht.
Nun – es betrifft Sie schon ein bisschen. Der Intendant hat immerhin die Einladung ausgesprochen: die Kapelle möge doch auch in dem neuen Konzertsaal spielen.
Na, werden wir mal gucken, was wir da machen können.
Aus München kennen Sie diese Querelen ja. Hat man sich jetzt nicht glücklich geeinigt, ich hörte, man will da diesen Museumssaal umbauen…
Nein, das hat sich wieder erledigt. Das wird nichts.*) Was ich gehört habe: „gehen Sie zurück auf Start, ziehen sie keine 4000 Mark ein“. Und das Grundstück in der Schlossallee gibt’s eigentlich nicht. Ich habe das in meiner ganzen Zeit in München nicht verstanden: die Akustik im Gasteig ist wirklich unterirdisch. Mir haben die Blechbläser immer leidgetan: Wenn die mal schön gespielt haben, hat man die Streicher nicht mehr gehört, man hat also den ganzen Abend den armen Trompeten gesagt: Jungs, bitte haltet an euch. Das war natürlich frustrierend. Was gut geht, sind Aufnahmen. Anne-Sophie Mutter nimmt hier auf, auch wir haben sehr schöne Aufnahmen gemacht… Aber da tut sich nichts, nein. Das Problem ist glaube ich, dass der Bayerische Rundfunk Leasingverträge mit dem Gasteig hat, die erst in 25 Jahren auslaufen. Jeder Stadtkämmerer sagt da: um Himmels willen, wie viele Millionen wollen wir noch ausgeben? Das kann man doch vor dem Wähler nicht verantworten…
In Dresden ist das nicht so angespannt. Klar, man möchte hier auch die Weltklasseorchester zu Gast haben, aber ob die in den Kulturpalast kommen…? Wir werden sehen.
Sie haben vor einiger Zeit ein Konzerthaus für die Staatskapelle gefordert. Wie stehen Sie heute zu dem Aufruf, den damals ein Dutzend namhafter Dirigenten unterstützte?
Natürlich wäre es schön, wenn es in Dresden ein erstklassiges Konzerthaus gäbe. Das hat interessanterweise schon Richard Wagner gefordert. Dieser Wunsch ist somit auch alles andere als neu. Ob der umgebaute Kulturpalast ein solches Konzerthaus werden wird, bleibt abzuwarten. Es ist immer schwierig, innerhalb einer vorgegebenen Hülle einen akustisch einwandfreien Saal zu errichten. Normalerweise entwickelt man einen Konzertsaal von innen nach außen und nicht umgekehrt.
Eigentlich ist das Thema Konzerthaus mit dem Beschluss zum Umbau des Kulturpalastes aber vom Tisch, oder?
Das möchte ich so nicht sagen. Allerdings ist klar, dass die Errichtung eines Konzerthauses für Dresden durch den Umbau des Kulturpalastes nicht einfacher wird. Man muss sehr genau abwägen, wie ein solches Konzerthaus genutzt werden könnte. Gleiches gilt aber auch für den Kulturpalast, für den meines Wissens bisher auch noch kein überzeugendes Nutzungskonzept vorliegt. Feststeht aber auf jeden Fall, dass in der Semperoper gewisse Engpässe bestehen. Im Bereich der Oper fehlt es an Probenräumlichkeiten, und auch für die Staatskapelle wäre es wünschenswert, sämtliche Proben oder zumindest deutlich mehr Proben als bisher auf der eigentlichen Konzertbühne und nicht in einem akustisch hoch problematischen Probenraum absolvieren zu müssen.
"Dresden ist eine lebenswerte Stadt – das müssen wir publik machen!"
Noch einmal Themenwechsel. Stichwort René Pape: der ehemalige Kruzianer ist weltberühmt, ist aber in seiner Heimatstadt selbst vergleichsweise selten auf der Opernbühne zu erleben. Warum eigentlich?
Keine Ahnung, das müssten Sie als Dresdner doch wissen? Wir werden ihn ja demnächst als Orest haben. Wissen Sie, ich glaube, das liegt auch ein bisschen daran: Leute, die länger da sind, wissen manchmal nicht, was man an Dresden hat. Die ganze Welt kommt nach Dresden – der Kunst wegen. Jetzt müssen wir halt sehen, wie wir den musikalischen Ruf noch weiter in die Welt tragen. Das ist auch die Spätfolge des Eisernen Vorhangs: früher war man eher in Mailand als in Dresden. Dresden ist eine derartig lebenswerte Stadt – das müssen wir publik machen! Künstler von hier wollten nach der Wende erst mal in die weite Welt, aber wir müssen sagen: tut doch mal was für eure Stadt! Was können wir noch besser machen, wo sind wir schon an der Spitze angelangt? Man ist ja auf vielen Gebieten Weltklasse, aber womöglich weiß das die Welt nicht.
Wir müssen sehen, dass wir die Leute nach Dresden locken, um den Klang der Kapelle am Ort selbst zu hören. Vielleicht liegt es aber auch an ganz simplen Sachen wie den Bahnverbindungen? Versuchen Sie mal, nach einer Opernvorstellung noch nach Berlin zurückzufahren – da erleben Sie Ihr blaues Wunder. Fährt um 22:45 Uhr von Dresden Neustadt noch ein schneller Sprinter nach Berlin, nach Leipzig? Es ist doch so: alle Besucher sind geblendet vom Reichtum, vom Glanz dieser Kunststadt. Pillnitz, Großsedlitz, Königstein – das sind die schönsten deutschen und europäischen Ziele! Aber man muss sie ins Bewusstsein bringen. Und dazu gehört zum Beispiel auch ein René Pape! Vielleicht war es auch so: viele, die die Wende mitgemacht haben, wollten erst mal los. Und das haben sich Agenten natürlich zunutze gemacht und Pape an der Met und Covent Garden dauergebucht. Und der hat natürlich gesagt: Kinder, da muss ich jetzt mal hin. Und darüber vielleicht vergessen, wo er zuhause ist.
So arrogant muss man sein: um René Pape zu hören, muss man nach Dresden fahren – peng. In meinem Fall: wenn ich die Marke „Thielemann und Staatskapelle“ installiere, muss es heißen: diese Kombination ist in der Dresdner Semperoper zu hören. So war es ja bei Sinopoli auch. Diese Art von Traditionsbewusstsein müssen wir den Leuten zeigen. Sie fahren ja auch nach Avignon, Siena, Bath, St. Petersburg, weil sie das Typische des Ortes suchen. Man möchte ja auch nicht überall Wiener Schnitzel essen.
Christian Thielemann, vielen Dank für das Gespräch.
*) Stellungnahme des Bayerischen Rundfunks vom 24. August 2012:
"Christian Thielemann sagt im Interview mit „Musik in Dresden“ zum Thema Konzertsaal in München, der BR habe Leasingverträge mit dem Gasteig, die erst in 25 Jahren auslaufen. Dies ist nicht korrekt. Der Bayerische Rundfunk hat keine Leasingverträge mit dem Gasteig.
Was den Kongresssaal des Deutschen Museums als möglichen Standort des Konzertsaals betrifft, so hat der Bayerische Landtag eine Machbarkeitsstudie bewilligt, die untersucht, ob und mit welchem Aufwand der Kongresssaal auf der Museumsinsel zum Konzertsaal umgebaut werden kann oder für einen solchen abgerissen werden könnte. Das Ergebnis der Studie soll Ende des Jahres vorliegen."