Der Abend war schon fortgeschritten, da sagte Stanislaw Tillich zu Horst Seehofer: "Die Bayern haben Martínez gekauft – und wir Christian Thielemann geholt!" Vierzig Millionen Euro betrug die Ablösesumme für den einen, der einen Fünfjahresvertrag unterschrieb. Der andere kam ablösefrei von seinem Münchner Ex-Verein und soll erst einmal sieben Jahre bleiben. Wenn es nach den Dresdnern geht, darf die Ehe natürlich gern länger halten. Und auch Thielemann hat so viele Vorschußlorbeeren für seine Neue auf die Hochzeitstorte gehäuft, dass es einem als Hörer fast angst und bange werden kann: wie sollen denn die beiden Helden bloß in den Alltag finden, nach dieser rauschhaften Hochzeitsnacht?
Die "Marke" Thielemann plus Staatskapelle wolle er entwickeln helfen, sagt der Dirigent in Interviews: wer ihn hören will, soll zukünftig bitte anreisen. Die Stadt nutzt den Thielemann-Effekt natürlich gern (der Ausdruck wird Jan Nast, dem Orchesterdirektor, zugeschrieben). Hotels, Dienstleister, Touristikunternehmen möchten gern ein Stückchen von diesem süßen Tiramisu – wörtlich: "Zieh mich hoch!" – abhaben.
Während im Antrittskonzert (liebevoll selbstironischer Titel: "Er ist's") wunderbare Hugo-Wolf-Lieder vorbeischwebten und eine nicht völlig schleppend, aber doch an manchen Stellen etwas zu sorgsam buchstabierte Brucknersche Siebte ablief, mit einigen winzigen intonatorischen Fragezeichen in den insgesamt hochkonzentriert aufspielenden Bläsern und der ein oder anderen Uneinigkeit zwischen den Streichern, das Tempo betreffend, saß ich da, rechtschaffen glücklich zwischen all den Touristen, Joachim Kaiser, Elke Heidenreich, Mathias Döpfner, und die Gedanken mahlten:
Die folgenden Konzerte werden mehrheitlich fürs Fernsehen, für CD und DVD aufgezeichnet. Wie lange wird das Orchester brauchen, um die sachte Benommenheit ('jetzt gilt's, zwanzig Fernsehsender schauen dir zu") abzulegen, um sich klanglich wieder freizuschwimmen, um wieder die kleinen Risiken einzugehen, die für den betörenden Klangrausch, das einzigartige Hier-und-jetzt-Erlebnis unerlässlich sind?
Wird die Gläserne Manufaktur, der "Platin"-Werbepartner des Orchesters, die gesteigerten Ansprüche, das Toursponsoring, die Empfänge, die Produktionsbeiheilfen steigern und gleichzeitig die breite Förderung anderer, sämtlich kleinerer und doch für Dresden wichtiger Kulturprojekte beibehalten können? Oder wird es hier zu Konzentrationen kommen müssen?
Wie wird sich die Dresdner Philharmonie zukünftig neben der Staatskapelle positionieren können? Wird sie, gebeutelt durch die heimatlose Zeit, die Querelen um ihren Intendanten Anselm Rose und die drohenden finanziellen Engpässe beim Umbau des Kulturpalastes, überhaupt Schritt halten können mit der Staatskapelle? Findet sie selbstbewusst in die künstlerischen Nischen, die die Staatskapelle mit ihrem engen Fokus auf das Repertoire ihres Hauses und ihres Chefdirigenten freimacht, wird sie vielleicht das Orchester für die jungen, experimentierfreudigen Dresdner, die sich den Rhabarbersaft im Semper-Foyer nicht leisten mögen? (Warum etwa bisher die Berührungspunkte mit dem Europäischen Zentrum der Künste in Hellerau nicht stärker gesucht wurden, wäre nicht zuletzt Anselm Rose zu fragen…) Wird sie dem altgoldenen Klang der Wunderharfe einen wiedererkennbaren, knackfrischen "Dresdner Klang" entgegensetzen und damit die Stadträte überzeugen können, immer genug Geld für exzellente Musiker, einen exzellenten Saal und eine fachlich exzellente Orchesterdirektion bereitzustellen?
Die Besucher der abendlichen Hochzeitsparty in der Gläsernen Manufaktur überhörten jedenfalls geflissentlich den Satz, den Stanislaw Tillich – vielleicht unglücklich improvisiert, vielleicht in Unkenntnis der Umstände, unter denen Christian Thielemann sich jeweils vorfristig von seinen musikalischen Ex-Partnern trennte, an seinen Transfervergleich anhängte. Vollständig lauteten seine Worte: "Die Bayern haben Martinez gekauft und wir Christian Thielemann geholt. Ich will nicht spekulieren, wer länger die Form behält."