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Mit Peter Schreier in Spanien

Heute wäre Kurt Sanderling 100 Jahre alt geworden. Gestern, vor einem Jahr, ist er gestorben. Im gleichen Jahr, am 20. November vor 100 Jahren, wurde Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“, in München uraufgeführt. Der Dirigent war Bruno Walter. Vor knapp 30 Jahren hat Kurt Sanderling mit dem Berliner Sinfonie-Orchester Mahlers Spätwerk eingespielt, vier Jahre zuvor nahm er mit dem gleichen Orchester in der Berliner Christuskirche Mahlers Sinfonien Nr. 9 und Nr. 10 für VEB ETERNA auf. Als Sonderedition zum 100. Geburtstag gibt es die drei Einspielungen jetzt BERLIN Classics (z.B. hier bei Amazon.de bestellen).

Manchmal helfen Umwege. Um an Kurt Sanderlings Aufnahme von Mahlers „Das Lied von der Erde“ mit den Solisten Peter Schreier und Birgit Finnilä wieder erinnert zu werden, führte der Umweg über den Tanz, übers Ballett. Mahler hat kein Werk für den Tanz geschrieben, auch wenn es in seinen Sinfonien ausgesprochen tänzerische Passagen gibt. Lange bevor John Neumeier die Tanzwelt mit seinen Choreografien zu Mahlers Sinfonien in Erstaunen versetzte, brachte der englische Choreograf Kenneth MacMillan 1965 mit dem Stuttgarter Ballett seine bis auf den heutigen Tag erfolgreiche Kreation „Das Lied von der Erde“ heraus.

Im Dezember letzten Jahres kam das Werk in einer Neueinstudierung des Bayerischen Staatsballetts heraus. Gehen die Bayern mit diesem Ballett auf Tournee, wie zuletzt in diesem Sommer nach Spanien, dann wird eben jene Aufnahme unter der Leitung von Kurt Sanderling eingespielt. Und so wurde ich wieder aufmerksam auf diese Einspielung, welche jetzt gemeinsam mit den beiden Sinfonien in der o.g. Ausgabe vorliegt.

Insbesondere Sanderlings Interpretation dieses großen Abschiedsgesanges in weiter, sinfonischer Manier, mit den sechs Sologesängen für Orchester und Solisten nach Übertragungen alter chinesischer Lyrik, nimmt beim erneuten Hören sofort gefangen. Im instrumentalen Bereich besticht diese Aufnahme besonders mit den so klaren, kammermusikalischen Passagen, die das eigentlich außergewöhnlich groß besetzte Werk nicht unwesentlich prägen. Sanderling vermeidet in Mahlers Abschiedsgesang, in diesem „Trinklied vom Jammer dieser Erde“, jeden Anflug von Sentimentalität, die Unerbittlichkeit des Werkes wird herausgestellt.

Mit dem Tenor Peter Schreier und der finnischen Mezzo-Sopranistin Birgit Finnilä stehen Solisten zur Verfügung, denen ein weites Maß der Gestaltung möglich ist. Schreier kann gellend scharf sein im „Trinklied vom Jammer dieser Erde“ und mit faszinierender Ironie den Satz „Der Trunkene im Frühling“ singen und dann auch ganz leicht mit den Qualitäten des lyrischen Liedertenors, als gelte es ein heiteres Lied zum Besten zu geben, in „Von der Jugend“, ganz im Sinne von Mahlers Anweisung, „Behaglich heiter“, zu sein. Nimmt Schreier unter seinen großen Tenor-Kollegen, die es sich zutrauen konnten diesen Part zu singen und auch dokumentieren zu lassen, eine unverwechselbare Stellung ein, so erreicht Birgit Finnilä diese absolute, persönliche Ausstrahlung nicht ganz in gleichem Maß.

Von Adorno stammt der Satz, dass Mahlers 9. Sinfonie da beginne, wo „Das Lied von der Erde“ ende. Hört man in der vorliegenden Ausgabe die mit einem je knapp 30 Minuten währenden, langsamen Satz beginnende und endende Sinfonie auch im Sinne Adornos, dann brechen noch einmal mit aller Vehemenz Mahlers so zerrissene wie unglückliche Weltwahrnehmung in musikalischer Gewalt auf, umrahmt und auszuhalten klanglich umschlossen von den Zartheiten des ersten und vierten Satzes. Kurt Sanderling, dem wir ja auch grandiose Begegnungen mit der Sinfonik Dmitri Schostakowitschs verdanken, erweist sich auch hier als sachkundiger und auch sachlicher Anwalt Mahlers. Die als Fragment erhaltene 10. Sinfonie hat Kurt Sanderling in der Fassung von Deryck Cooke und Berthold Goldschmidt von 1976 im Mai 1978 erstmals in der DDR zur Aufführung gebracht.

Diese drei wichtigen Werke Mahlers unter dem Dirigenten Kurt Sanderling, „Das Lied von der Erde“ mag dabei von besonderer persönlicher Bedeutung für ihn sein, belegen auf höchst eindrückliche Weise nicht zuletzt das hoch zu schätzende Verdienst Sanderlings, Mahler in der DDR gegen harte Bedenken sozialitischer Realisten, kraft musikalisch überzeugender Argumente, mit durchgesetzt zu haben.