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Lesen und lesen lassen!

Richard Wagner mit 56 Jahren (Quelle: Wikimedia Commons)

Wagner-Experte mit zehn Buchstaben? Wer regelmäßig »Musik in Dresden« liest, muss bei einer solchen Frage im Kreuzworträtsel gewiss nicht lange grübeln: Thielemann. Christian Thielemann, als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden quasi ein Nachfolger von Hofkapellmeister Richard Wagner. Viel länger aber schon gilt der 1959 in Berlin geborene Dirigent als heimlicher Herr auf dem Grünen Hügel von Bayreuth, Wagners ureigenster Wirkungsstätte. Wohl niemand hat dort in jüngster Vergangenheit so viele Wagner-Aufführungen geleitet wie er. Und auch anderenorts schafft es Thielemann immer wieder, mit Richard Wagner zu reüssieren. So war es nur eine Frage der Zeit, dass der Wagnerianer vom Pult auch mal zum Schreibtisch gewechselt ist. Das Ergebnis: „Mein Leben mit Wagner“.

Denn der 1813 in Leipzig geborene Dichter-Komponist begleitet Christian Thielemann eigenen Angaben zufolge schon fast sein ganzes Leben. Was gewiss nicht daran liegt, dass auch ein Großvater Thielemanns ursprünglich aus Leipzig stammt. Aufgewachsen in der heilen Welt des West-Berliner Bürgertums, hatte sich der heutige Star-Dirigent als Jugendlicher zwischen Wagner und Mahler zu entscheiden. Andere wählten da noch zwischen Junger Union und APO.

Thielemann muss seine Berufung sehr frühzeitig in sich gespürt haben. Denn wer hört schon als Kind Wagner-Schallplatten mit der Partitur auf den Knien und lässt familiäre Rufe „Komm raus, schönes Wetter“ ungerührt verhallen? Daraus ergab sich eine Konsequenz für das gesamte künstlerische Leben, auch wenn er verrät, heute wieder zunehmend Lust auch auf Mahler zu haben. Mit seinem Buch gibt er Einblicke in diesen ganz privaten Wagner-Kosmos, seinen Lesern will er aus Sicht des Musikers die Türen zu dieser einmaligen Klangwelt öffnen. Genau beschreibt er deren Bestandteile Musik, Text und Stoffgrundlage.

Auch das Herangehen des Künstlers wird anfangs nicht immer leicht gewesen sein, er habe diesbezüglich jedoch nie an Karriere gedacht, sondern eben an Wagner: „Je mehr man weiß und kann, desto mehr weiß man eben auch, wie viel mehr man noch wissen und können müsste.“ Wir erfahren um die Schwierigkeiten und um die Ernsthaftigkeit des jungen Interpreten, der einer frühzeitigen Assistenz bei Herbert von Karajan und der darauf folgenden „Ochsentour: Korrepetitor, Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung, Assistenzen bei namhaften Dirigenten, zweiter Kapellmeister, erster Kapellmeister, Generalmusikdirektor in der Provinz oder an einem mittleren Haus, Generalmusikdirektor an einem großen Haus.“ Rückblickend wisse er heute gar nicht, was zuerst dagewesen sei: „der Gedanke an Wagner oder der ans Dirigieren.“

All diese Auskünfte sind in angenehmem, weder über- noch unterforderndem Plauderton gehalten – wie groß die Mitwirkung der Autorin und Musikwissenschaftlerin Christine Lemke-Matwey war, wird an keiner Stelle verraten –, das erleichtert auch Laien den Zugang, um „Mein Leben mit Wagner“ als enormen Gewinn für sich zu genießen. Denn dieser gigantische Kosmos Wagner ist bekanntlich nicht unumstritten, beinhaltet Kollegenschelte (ein Exkurs geht auf die Tiraden wider Mendelssohn ein) und weltanschauliche Fragwürdigkeiten („Über das Judenthum in der Musik“ mag von Apologeten als Wagnersche Kernaussage gedeutet werden; Musiker sehen in Wagner immer den Musiker). Spannend wird es, wenn sich Thielemann mit dem Missbrauch Wagners in der Nazizeit und dessen Nachwirkungen in der bundesdeutschen Bayreuth-Rezeption beschäftigt („Das sogenannte Weltanschauliche“). Er macht sich aber auch explizit Gedanken um die Theorie und Praxis von Wagner-Interpretation („Was ist eine gute Aufführung?“) und hilft „Anfängern“, sich in Personal und Botschaft des mythischen Musiktheaters zurechtzufinden.

So launig wie kenntnisreich werden Entstehung, Besetzung, Handlung, Musik und Aufnahmen aller Musikdramen von Richard Wagner beschrieben, selbst die unvollendete „Hochzeit“ von 1832 findet Erwähnung. Dieses Kapitel kann auf den nächsten Opernbesuch ebenso einstimmen wie auf eine gründlich zu Gemüte geführte CD. „Mein Leben mit Wagner“ macht deutlich, dass Thielemann zu diesem Genius tatsächlich eine Art Wahlverwandtschaft hat, die er freilich gründlich zu analysieren vermag. An keiner Stelle dröge Experten-Lektüre, dürfte das Buch zum Gewinn auf Wagners Geburtstagstisch werden.

Christian Thielemann – „Mein Leben mit Wagner“
Unter Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey
320 Seiten, 20 Abb., 19,95 Euro
Verlag C.H.Beck
ISBN 978-3-406 63446-8

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