Ein großer Komponist wird 100, und auch wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilt, ist es wunderbar, ihn an diesem Tag mit Aufführungen seiner Werke zu ehren. Doch wie nähert man sich einem Komponisten, der den Werkbegriff, den Musikbegriff an sich stets hinterfragt und neu erfunden hat? Sich John Cage anzunähern heißt auch zu akzeptieren, keine Antworten vorgesetzt zu bekommen. Anstelle von Bedürfnisbefriedigung steht bei Cage zunächst die Überprüfung der Bereitschaft, der Hingabe, sodann der Einlass zu Geist, Sinnen und Herz. Cage zu ehren heißt immer auch das Rezeptionsverhalten zu überprüfen und Aufführungspraxis, Raum und Instrumentarium zu hinterfragen. Diese Überprüfung darf auch beim Komponisten selbst nicht Halt machen. Zwar ist Cage eine wichtige Leitfigur der Musik des 20. Jahrhunderts, doch von strikter Ablehnung bis zur bedingungslosen Verehrung reichen die Urteile – und Cage beförderte den Diskurs durch eigene Experimentierfreude, auch durch Widersprüche.
Unmöglich scheint für Cage eine geordnete, repräsentative und "richtige" Ehrung. Insofern war die Entscheidung des Europäischen Zentrums der Künste, eine 48h-Veranstaltung mit einem breiten und bunten Spektrum anzubieten ein Experiment aus der Fülle heraus, ein freies, vorsichtig inszeniertes Angebot. Die Zuschauerbewegungen des reichlich erschienen Publikums am vergangenen Wochenende in Hellerau machten deutlich, dass jeder seine persönliche Dosis Cage mitnehmen würde – von der einzelnen Aufführung bis zum zwei Tage währenden Marathon war alles möglich. Mit allen Simultanaktionen und inklusive des von Schülern gestalteten Cage-Prologes kamen mehr als drei Dutzend Werke zur Aufführung, viele Facetten des kreativen Kosmos des Autors, Grafikers, Lehrers, Kritikers, Pilzsammlers und Schachspieler konnten so in Erscheinung treten.
Zu Gast in Hellerau: zwei Lichtgestalten, zwei Huskys und die Dresdner Philharmoniker (Foto: Klaus Gigga)
Mit vier Stücken, gespielt von der Dresdner Philharmonie unter Leitung von Kasper de Roo, wurden am Samstag mehrere Schaffensperioden von Cage in kürzester Zeit durchmessen. Mittlerweile vertraut mit dem Zufall und Improvisation, wirkte das Ballettwerk "The Seasons" – das erste Orchesterwerk des Komponisten überhaupt – in seiner Strenge der Durchführung sehr fremdartig. Dagegen durchwehte der vom Schweigen und der – unmöglichen – Stille bestimmte Klassiker "4'33''" gleich mehrere Veranstaltungen – die Orchesterfassung (ohne Tuba) war in doppelter Ausführung besonders spannungsvoll. "Seventy-Four" wiederum war ein wichtiger und sofort unter die Haut gehender Beitrag der "Number Pieces", in welchem das Orchester in geführter Freiheit an der Uhr entlang spielt und Klänge entstehen und vergehen läßt. Beim "Atlas Eclipticalis" schließlich entstand ein undurchsichtiges Dickicht aus Einzeltönen – mehr oder weniger als der abgepauste Sternenhimmel will dieses Stück nicht sein und verbleibt daher auch etwas starr in dieser Konstruktion. Bei der Klarheit der kompositorischen Ideen dieser Werke wäre inszenatorischer Ballast störend empfunden worden. Die kleinen Zutaten, die der Komponist Manos Tsangaris der Wiederholung des Orchesterkonzertes beigab, waren allerdings so minimalistisch, dass sie kaum der Musik eine bereichernde Ebene geben konnten. Am besten gelang das noch im flächigen "Seventy-Four" mit einem Pendel, vorbeilaufenden Hunden und Licht-Veränderungen, doch die Knipserei der Pultlampen im Atlas verblieb ebenso im Spielerei-Modus wie die sukzessive Helligkeit in "The Seasons".
Einen Tag zuvor hatte Tsangaris die Räume des Festspielhauses für mehrere Kammermusiken von John Cage "kartografiert". Die Zuhörer starteten mit dem Besuch eines simultanen Wandelkonzertes, bei dem der Zuhörer je nach Standpunkt und Verweildauer mit Ausschnitten aus mehreren Stücken konfrontiert wurde. Das Konzept war durchaus passend und ergab quasi ein neues Stück von Cage (der in seinem Spätwerk selbst auch ermöglichte, verschiedene seiner Stücke miteinander zu kombinieren). Die Aufführungen durch AUDITIVVOKAL (Ausschnitte aus den Song-Books), dem – leider akustisch etwas unglücklich platzierten – chinesischen Ensemble Contempo Beijing und der Performerin Kat Válastur wurden jäh durch ein (pseudo-)musikwissenschaftliches Textgewitter aus den Lautsprechern beendet. Was sonst maximal als Pausengespräch beim Wein palavert wird, platzte nun in die Aufführung, ob das nun "cageig" war, sei dahingestellt. Den weiteren Konzertverlauf durfte das Publikum durch den Zufall bestimmen lassen, eine "blaue" Gruppe verfolgte zunächst das Sonar Quartett mit den "Thirty Pieces for String Quartet" durch die Räume des Festspielhauses und beteiligte sich nur zögerlich beim späten Instrumental-Theater des elole-Klaviertrios in den "Variations III". Zuvor kam man im großen Saal zu drei Stücken, interpretiert durch das Ensemble Garage, zusammen und war beeindruckt von still entfalteten Tönen, die so für sich selbst stehen, dass Erklärung und Verständnis als Kategorie obsolet erscheint.
Was die "rote" Gruppe mit Cage erlebte, entzieht sich ebenso der Kenntnis des Autors, wie der Fortgang im Nachtprogramm. Innerhalb der 48h-Performance war ausreichender Schlaf nicht unbedingt das Hauptthema. So durften sich die Nachtschwärmer noch über eine vielleicht die Ohren durchspülende Aufführung der "Goldberg-Variationen" von Johann Sebastian Bach (Pi-Hsien Chen, Klavier) freuen, um nach kurzer Nacht und einem Frühstück mit dem Cellisten Jan Vogler zu einem Pilzspaziergang aufzubrechen – dessen Sammelerfolg sofort mit einer Aufführung von "One⁸" für Cello Solo gekrönt wurde. Weitere Aufführungen, Filme und zwei augenzwinkernd installierte "kunstwissenschaftliche Beratungsbüros" ergänzten die bunte Palette dieser Performance. Am Ende stand die Erkenntnis eines leichten Overflows. Wie beim Kramen in einer prall gefüllten Schublade verweilt man hier und dort, übersieht dieses und jenes oder schaltet auch einmal ab. Eine Konzentration oder eine intensivere, nicht nur spielerische Auseinandersetzung mit Cage hätte vermutlich zu anderen Ergebnissen geführt. Doch beim Erfassen der vielen gewollten oder zufälligen Töne und der von vielerlei Philosophie durchtränkten Improvisationen war auch genug Freiraum gegeben, dass jeder "seinen" Cage für sich entdecken durfte. Und vor allem durfte man sich inspiriert fühlen von diesem Füllhorn aus Kreativität, umgesetzt durch Musiker, die die Leichtigkeit des Ausdruckes, die das Gesamtwerk verströmt, sehr ernst nahmen.