Wer zusammen verreist, lernt sich besser kennen. So hat die Staatskapelle ihren neuen Chefdirigenten in den letzten Wochen ganz unterschiedlich erlebt: in angespannten Probensituationen, etwa für einen CD-Mitschnitt; bei fantastischen und auch mal bei schwierigen Konzerten, in großen und kleinen Sälen, aber auch auf gemeinsamen Zugfahrten, im Restaurant oder auf Ausflügen. Christian Thielemann betonte, wie erstaunt und beglückt er von der „menschlichen Seite“ seiner neuen Arbeitsbeziehung sei: manche Musiker hätten wohl am Anfang erst einmal zurückhaltend gewirkt, aber in vielen persönlichen Gesprächen habe man sich auf der Reise gegenseitig „entdeckt“. Und inzwischen herrsche ein Vertrauensverhältnis, das er bei anderen Orchestern so gar nicht gekannt habe: zum Beispiel, dass er auf dem Gang hinter der Bühne angesprochen werde, ob man nicht diese oder jene Stelle nachher noch mal proben wolle…?
Auch auswärts stets in Bestform
Seine Liebe zu Dresden und den Staatskapellmusikern verhehlt der Dirigent bekanntlich nicht. Nun sei endlich „zusammengewachsen, was zusammengehört,“ Thielemann sei zufrieden, glücklich, Gastdirigate sage er immer öfter ab, für eine gute Beziehung muss man sich eben auch Zeit nehmen, nicht wahr? Und so fort. Bei den vielen begeisterten japanischen und chinesischen Musikliebhabern – über zwanzigtausend werden immerhin auf dieser Tournee die Konzerte der Dresdner besucht haben – rennt Thielemann damit offene Türen ein. Die Staatskapelle ist in Japan sehr beliebt; nun, unter Thielemann, sei doch aber wahrlich ein „goldenes Zeitalter“ angebrochen, so formuliert es eine musikbegeisterte Hörerin. Was denn jetzt überhaupt noch kommen könne? Ach was, sagt Thielemann, wir haben noch viel vor, warten Sie mal ab. Salzburg steht ab 2013 auf dem Plan, die Osterfestspiele will man dort gemeinsam ausgestalten. Sechsunddreißig Musiker nimmt er wieder mit nach Bayreuth, ins Festspielorchester. Und ja, auch das Thema „Ein Konzerthaus für Dresden“ will er sich vielleicht auf die Fahne schreiben; momentan warte er ab, wie die Sache mit dem Kulturpalast ausgeht. In einem Interview in Taipeh äußert sich Thielemann ausführlich über den Kulturpalast, auch über die problematische Probensituation der Staatskapelle in der Semperoper; die Presseabteilung gibt diese Passagen jedoch anschließend nicht zur Veröffentlichung frei. Hier liegen Orchester, Dirigent und Staatsoper augenscheinlich noch nicht vollständig auf einer Argumentationslinie. Oder wären tatsächlich in den nächsten Tagen Neuigkeiten in punkto Konzerthaus zu erwarten? Knappe Äußerungen, die der Künstlerische Leiter des „Beijing Music Festival“, der Dirigent Long Yu, am Donnerstag auf einer Pressekonferenz machte, deuteten darauf hin, dass der „Glanz von altem Gold“ vielleicht doch ein eigenes Konzertdomizil bekommen könnte. Auf Nachfragen jedoch ernteten die Journalisten von Maestro Yu nur ein stilles Lächeln.
Wiedersehen demnächst in Dresden?
Den vielen Fans, die die Kapelle bei ihren zehn Auswärtsspielen in Tokio, Kyoto, Nagoya, Yokohama, Taipeh, Schanghai und Peking hörten, ist dieses Thema wahrscheinlich egal. Sie haben Höchstpreise für ihre Eintrittskarten bezahlt; manche reisten dem Orchester sogar hinterher; und zumindest in Japan kam Thielemann, wenn das Orchester schon die Instrumente eingepackt hatte, nie um einen ganz persönlichen Extra-Applaus herum. Für die Salzburger Osterfestspiele wird es demnächst einen chinesischen Freundeskreis geben – und auch die Beziehungen zu ihrem treuen Tokioter Fanclub haben die Kapellmusiker letzte Woche noch einmal vertiefen können. Man erweckte Erinnerungen; Programmhefte, kleine Mitbringsel, interessante CD-Aufnahmen wurden ausgetauscht – und immer wieder war auch das Versprechen zu hören: „demnächst kommen wir nach Dresden!“
Das wäre denn einer der positiven Nebeneffekte dieser Tournee: Christian Thielemann und die Staatskapelle ein einziges Mal in der Semperoper spielen zu hören, ist nun ein Traum vieler Konzertbesucher. Die Chance, den traditionsreichen Klangkörper unter der Leitung dieses jungen, aber einem irgendgearteten „deutschen Klang“ verhafteten Dirigenten zu hören, verlockt das Publikum sehr. "Die Musik geht zu Herzen und lässt einen warm, elegant und nobel fühlen," schrieb der Kritiker der chinesischen "News Times". Der Ton der Kapelle sei unter Thielemann "erhaben und gewaltig; auf der anderen Seite sehr delikat, detailliert," so die Shanghai Morning Post. Eins der wichtigsten nationalen chinesischen Blätter, Wen Hui, ließ den Schanghaier Konservatoriumsprofessor Yang Yan Di zu Wort kommen. Er preist den "puren deutschen Klang", notiert auch "einige kleinere Fehler im Blech". Und ist fasziniert vom "lebendigen Fossil" Staatskapelle! In den chinesischen Microblogs Sina und QQ – Facebook und Twitter sind hier leider zensiert – ist meist Christian Thielemann der Aufhänger für kleinere Berichte und Kommentare. Er wird liebevoll als "großer Bär" bezeichnet und scheint echten Kultstatus zu genießen. Fast zwanzig Minuten klatschte das Saalpublikum in der Pekinger Konzerthalle am letzten Abend, um den Dirigenten zu bewegen, noch einmal aus seiner Garderobe zu kommen – unbekannt war solche Klassik-Fankultur bisher in China.
Eine Textfassung des Artikels ist am 3. November in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.