Veronal ist als Schlafmittel und populäre, inzwischen verbotene Selbstmordwaffe sogar zu literarischen Ehren gekommen. Arthur Schnitzlers Frl. Else nimmt es ein und schläft traumlos in den Tod. Einschlafen kann man nicht, wenn die spanische Kompanie La Veronal ihr Stück „Rússia“ erstmals in Deutschland zeigt und sich dabei mutig der Kritik aussetzt, lediglich Klischees zu bemühen. Warum aber eigentlich nicht? An spanischen Klischees mangelt es ja nicht gerade im russischen Ballett, an russischen aber auch nicht auf den Tanzbühnen rund um die Welt.
Marcos Morau jedenfalls schickt acht Tänzerinnen und einen Tänzer seiner Kompanie auf eine eiskalte Reise durch imaginäre russische Weiten im Winter. Ziel ist der Baikalsee, Transportmittel ist ein Wolga-Kombi, einst sowjetisches Prestigemodell und Behördenfahrzeug, gebaut in Gorki, als geschlossene Stadt Verbannungsort für Dissidenten wie Sacharow, heute wieder Nischni Nowgorod. Moraus Russland ist die Landschaft für einen getanzten Traum aus Angst und Einsamkeit. Seine choreografischen Elemente aus Dressur und Gehorsam vermitteln Assoziationen von Unfreiheit und Abhängigkeit. Bald geht diese Reise in die Lustgefilde der Foltermechanismen weit über die Grenzen eines imaginären Russlands hinaus.
Der russische Bär versteckt sich wieder in den Wäldern. Der als Heiliger verehrte Diktator ist nackt unterm Uniformmantel. In knapp geschnittenen Szenen eine Entführung, eine Massenerschießung am Schwanensee im Schnee, bei dem sich die klassischen Elemente des Tanzes grotesk verzerren. Russische Wortfetzen, Musik von Tschaikowski, Filmsound von North Howling, knappe Zwischentexte wie einst im Stummfilm: Die grandios tanzende Kompanie bereitet uns ein Wechselbad der Wahrnehmungen zwischen Lachen, Ablehnung und Faszination, und die Klischees würden uns ja auch nicht mitunter so sehr aufstoßen, hätten wir sie nicht so willig abrufbar bereits im Kopf.
Um einen zitternden Trip in Angstgefilde ganz anderer Art geht es im Anschluss im Nancy-Spiro-Saal, wenn Cristina Planas Leitão aus Portugal und Jasmina Križaj aus Slowenien ihre Performance „The very delicious piece“ präsentieren. Zwei Frauen zittern und zappeln. Zunächst bewegen sie sich kaum von der Stelle. Da ist etwas in ihren Körpern, das will heraus. Dazu Discosound und Sehnsuchtsschmalz, „Love Me Tender“ singt Elvis, die Frauen zittern dazu und singen mit. Sie sind in ihrer Einsamkeit erbärmlich. Sie machen sich schutzlos und schrecken nicht zurück davor sich lächerlich zu machen, sie wälzen sich zitternd am Boden, spreizen die Beine, halten die Mikrophone als wollten sie einen unwilligen Penis stimulieren – oder will die eine der anderen an die Wäsche?
Man kann diese fünfzig Minuten lange Zitterpartie für mutig halten, man kann sie aber auch als sehr private Angelegenheit empfinden und sich unwohl fühlen in der Rolle des Voyeurs, man kann sie auch einfach als zu lang geraten empfinden, denn schon nach kurzer Zeit kann man ahnen, sie können zusammen nicht kommen, denn die Angst vor dem, was nach dem Zittern kommen könnte, sitzt bei beiden viel zu tief.
Szenenwechsel: im Dalcrozesaal eröffnen Héctor Solari, Irene Pätzug und Valentin Hartweck ihre kinetische Videoinstallation „Diesseits“. Projektionen, Klänge und vor allem eine Wand, die sich durch den Raum bewegt, dabei schwebt oder sich neigt und somit die Filmsequenzen in immer neuen Blickwinkeln aufnimmt, lassen den Boden des Zusehenden unter den Füßen instabil werden. Standortwechsel bringt nur scheinbare Rettung, allein die Bewegung hilft, Stillstand verunsichert. Eine so assoziative wie kommunikative Ergänzung des Festivalprogramms.
Der Text ist auf www.tanznetz.de erschienen.