I
Das Schlussbild von Dessaus Einstein: Hans Wurst balanciert auf einer Rasierklinge.
Wie der Librettist – und Freund Schenkers – Karl Mickel erzählte, sollte die Szene auf Anraten des Intendanten der Deutschen Staatsoper Berlin Hans Pischner geändert werden. Der Textdichter war gehalten, 'etwas Positives' zu erfinden, um ein Eingreifen der Parteigenossen und die drohende Absetzung des gesamten Stückes nicht zu riskieren. Mickel schrieb und Dessau vertonte in wunderbar schräger Zwölftönigkeit:
"Sie sehen,
meine Damen und Herrn,
ich lebe gern."
– was die Sache ja eigentlich noch viel schlimmer machte, doch diese Art von Botschaften verstanden die Oberen nicht.
Die Geschichte erklärt viel von der Geisteshaltung, mit der Komponisten wie Dessau, Goldmann, Herchet, Schenker, Dittrich, Katzer – um hier nur einige aus dem Berliner bzw. Zeuthener Umfeld zu nennen – sich ständig genötigt sahen, auseinanderzusetzen. Ergebnis war ein Musizieren auf des Messers Schneide, bei Schenker als Komponist, Posaunist und als Kopf der Gruppe Neue Musik Hanns Eisler. Der Abgrund war stets nah – man sah lustvoll in ihn hinein, war subversiv, liebte das Risiko, auch die gezielte Provokation, den Untertext.
Geradezu arriviert wirken nun die Würdigungen eines Unbequemen: "Die Neue Musik verliert in ihm einen ihrer eigenwilligsten und konsequentesten Verfechter", schreibt der Präsident der Akademie der Künste in Berlin, Klaus Staeck. Schenker habe sich "mit großer Unbedingtheit, Mut und Kreativität für die ihm wichtigen Fragen" eingesetzt. Der politische Einspruch sei ihm bis zuletzt wichtig gewesen, auch als Satire oder Groteske. Der Text – so richtig, ehrenvoll wie unzureichend – erscheint im Rahmen einer Agenturmeldung in einigen Zeitungen von WELT über FOCUS und STERN bis hin zum Standard in Österreich. In Berlin nimmt das Neue Deutschland mit einem eigenen Beitrag Notiz. Ausführliche Würdigungen in mitteldeutschen Zeitungen (der Heimat Schenkers!) fehlen bislang – möglicherweise liegen die Nachrufe für einen 70-jährigen nicht griffbereit oder sie sind noch gar nicht geschrieben, was zu verstehen wäre.
War's das?
Das darf es nicht gewesen sein! Erinnerungen setzen ein Mosaik zusammen – vielleicht können sie ein wenig davon erzählen, was uns Friedrich Schenker bedeuten könnte.
II
Mein erstes Zusammentreffen mit Schenker datiert – neben einigen Erlebnissen innerhalb von Konzerten der Gruppe Neue Musik Hanns Eisler – von den "Tagen des DDR-Musiktheaters" in Chemnitz/damals Karl-Marx-Stadt, irgendwann Mitte bis Ende der 80-er Jahre. Die Veranstaltung war eine jener wundervollen Blüten der Musikszene des 'realen Sozialismus', erdacht von denen, die wirklich etwas voranbringen wollten, abgesegnet von jenen, die nichts davon verstanden, durchgeführt von Enthusiasten. Mehrere Tage lang wurden neueste Produktionen vorgeführt, z.T. in hochkarätigen Gastspielproduktionen; es gab Diskussionen, Podien zur Präsentation fertig komponierter neuer Werke, experimentelle Formate. In einer Nachtveranstaltung im Schauspielhaus hatten Schenker und der Pianist und Kapellmeister Reinhard Schmiedel eine neue Oper vorgestellt (die Erinnerung verschwimmt: Wahrscheinlich war es Büchner, uraufgeführt 1987 in Berlin): Schmiedel am Klavier singend und spielend, Schenker rezitierend, erklärend, Posaune spielend, singend, prustend.
Ob die Aufführung des kompletten Werkes je die Vitalität dieses Happenings erreicht hat, muss ungeklärt bleiben – der Abend hatte alle Ingredienzien von Avantgarde mitten im festgefahrenen sozialistischen Musikalltag. Veranstaltungen wie diese höhlten das System auf wunderbare Weise aus, Schenker als enfant terrible, wobei jeder wusste, dass hier mit dem Freund und Vertrauten von Luigi Nono, Paul Dessau, Ruth Berghaus und Karl Mickel ein Komponist, Denker und Philosoph auftrat und musizierte, der über die Revolution, über Danton, Büchner, über Deutschland, aber ebenso über die Romantik und Frauen wie Bettina von Arnim nachdachte, der Bach und Hölderlin gleichermaßen reflektierte wie Martin Luther King, Marx oder Michelangelo. Kein Thema war ihm zu groß oder zu klein: Vom "Maximo Lider" Kubas über Faust bis zu Kleist, Jessenin, Majakowski, Joyce und Kierkegaard – Schenkers Werke setzen sich konsequent, kritisch und selten geradlinig mit den großen Themen dieser Welt auseinander – mit den ganz großen und existenziellen!
Am nächsten Morgen eine Podiumsdiskussion, geleitet von dem in einer leicht aufgeheizten Situation und Atmosphäre fast bedauernswerten Siegfried Matthus. Eloquent und vermittelnd versucht er, die streitbar gestimmten Geister einzufangen. Eine renommierte Sängerin des Wagner-Fachs moniert die fehlende Sangbarkeit moderner Partituren – da höre ich in den hinteren Reihen Schenker explodieren: "Frau K, Sie sind eine der ewig Gestrigen…". Matthus sucht zu beruhigen und die Intendantin eines kleineren Theaters verlangt für die Fortsetzung der Diskussion am Nachmittag fast flehend "Aber bitte: Ohne Injurien!".
Doch – es gab Ende der Achtziger in der DDR eine lebhafte und von Widersprüchen aufgeladene Diskussionskultur. Dies sollte ohne jede Verklärung einer schnöden, schrecklichen Zeit festgestellt werden. Wenn sie erträglich war, dann ganz wesentlich, weil eine resolute Avantgarde für Gegenentwürfe sorgte. Die Aufarbeitung einer zweiten Blüte der Musikszene dieser Zeit könnte davon einiges wiedergeben: Die Rede ist vom "Radio DDR Musikclub", jener weltweit wohl einzigartigen Reihe auf Radio DDR II, damals sozusagen der Kulturkanal des sozialistischen Rundfunks. Der Himmel allein weiß, wie die Sendungen jemals die Zensur passierten. Man stelle sich vor: Freitagabend 20.05 Uhr, mithin zur besten Sendezeit, fand wöchentlich eine knapp 2-stündige Diskussion zu zeitgenössischer Musik statt. Es wurden Werke vorgestellt, über ästhetische Fragen diskutiert usw. usf. – 115 Minuten Avantgarde zum Auftakt des Wochenendes. Ein sensationelles Format, das der von Frank Schirrmacher gerade beklagten Gesellschaft der 'Informationsökonomie' vorauseilend, die nur noch auf Gefällt mir/Gefällt mir nicht reagiert, bereits mit dem Mauerfall zum Opfer fiel.
Was das mit Schenker zu tun hat? Der Kreis um Dessau, seine Schüler, den Musikwissenschaftler Frank Schneider, die Interpreten Burkhard Glaetzner u.v.a.m. waren die Protagonisten dieser sehr lebendigen Szene, die im Widerspruch zu stehen scheint zum Bild, das zu oft über diese Zeit kolportiert wird. Stoff für mehrere Dissertationen!
III
Die nächsten Erlebnisse mit Schenker fanden zunächst nur per Radio oder Schallplatte statt. Die Michelangelo-Sinfonie wird man auf LP oder mittlerweile CD kaum adäquat hören und verstehen können. Die Uraufführung in Leipzig konnte ich leider nicht besuchen; die Langspielplatte steht seit dieser Zeit als ehrfürchtiges Mahnmal im Regal. Noch hat die Musikwissenschaft das Werk nicht erschlossen, jedoch dürfte es interessant sein, Schenkers Riesenopus von 1985 in Vergleich zu setzen zu Schnebels Sinfonie X (1987 – 92) oder Werken von Lachenmann oder Rihm. Der Legende übrigens, der Komponist habe bei der Uraufführung im Gewandhaus einem unverständigen Publikum den Hintern gezeigt, kann an dieser Stelle energisch widersprochen werden: Schenker erinnerte sich mir gegenüber deutlich, dass parallel – um einige Tage versetzt – ein zweites Werk von ihm in Leipzig erklang, das in der Tat heftigere Reaktionen auslöste. Bei dieser Gelegenheit habe er sich resigniert abgewendet, was als Skandalon empfunden wurde. Kurze Zeit später waren Bettine in Berlin (mit der unvergleichlichen und preisgekrönten Annette Jahns in der Titelrolle der Bettina von Arnim) und die Radio-Oper Die Gebeine Dantons in der Wahrnehmung parallel zu den Wendeereignissen eine Sensation und gruben sich tief in mein Gedächtnis ein.
Greifswald/Stralsund 1996. Jahr 7 nach 1989, die erste Nachwenderesignation überrollte den Osten. War das alles? Wollten wir nicht viel mehr als Aldi, TUI, Neckermann und Helmut Kohl? Ein aus dem Westen kommender Intendant (Florian Zwipf) wagte das Undenkbare und das Theater Vorpommern veranstaltete die "Ersten Tage des Zeitgenössischen Musiktheaters". Der Finne Rautavaara (Das Sonnenhaus), Rihm (Jakob Lenz) und Dessau (Einstein) bildeten den Schwerpunkt, um die Opernabende waren weitere Veranstaltungen, Konzerte und Diskussionsforen gruppiert. Anknüpfend an das etwa 10 Jahre alte Chemnitzer Erlebnis lud ich Schenker ein, mit mir und Schmiedel seine neueste Oper vorzustellen: Les Liaisons dangereuses/Gefährliche Liebschaften nach Choderlos de Laclos.
Das Stück, ursprünglich für Leipzig komponiert, wurde später in Ulm uraufgeführt. Schmiedel an einem Klavier, ich an einem anderen, in der Mitte Schenker, rezitierend, Posaune spielend, singend, prustend… Kopfschütteln, Heiterkeit, Begeisterung in der nordischen Provinz. Eine Hymne über die Gesamtveranstaltung erscheint später in DIE ZEIT, geschrieben von Eleonore Büning. Und ein Schleier der Wehmut liegt über den Tagen, denn die Aufführung des Einstein von Dessau (Inszenierung: Michael Sturm), gewidmet seiner Frau Ruth Berghaus, findet just an ihrem Todestag (25.01.1996) statt. Es dürfte die bisher letzte Aufführung des von Theo Adam, Peter Schreier und Otmar Suitner uraufgeführten Werkes sein. Beim nächtlichen Rotwein erzählt Schenker von der Beerdigung Dessaus und der Idee der Regisseurin, die Meisterschüler Totenwache halten zu lassen. Honecker, Stoph und die gesamte Staatsführung defilierten am Sarg vorbei, ihre Verbeugung vor dem Sarg Dessaus geriet somit auch zur Verbeugung vor der aktuellen und ungeliebten musikalischen Avantgarde – Schenker mitteninne. "Das war die beste Inszenierung der Berghaus!" – (wogegen zu widersprechen wäre!, aber die Geschichte ist zu schön, als sie hier auszulassen).
PS: Die Aufführungsserie des Einstein am Theater Vorpommern führte im Nachhinein zu erheblichen Konflikten, die in die Entlassung des mutigen Intendanten mündeten. Pikantes Detail: Aus dem Munde ehemaliger SED- Angehöriger erklang der Ruf, man biete einen 'publikumsfeindlichen Spielplan' an und ruiniere damit das Theater. Ein West-Intendant (Zwipf) und ein vor wie nach der Wende bekennender Protestant aus dem Osten (Klemm) setzen Dessau auf den Spielplan und werden von dessen ehemaligen Genossen in die Zange genommen, das Ganze 50 Jahre nach Kriegsende und zum Zeitpunkt, da Jaques Chirac auf dem Mururoa-Atoll die von Einstein geerbten Atombomben versuchsweise zünden lässt. Auch nicht gerade publikumsfreundlich…
IV
Wieder vergeht einige Zeit. Im Westen – München – mache ich die Erfahrung, dass die Avantgarde-Komponisten des Ostens nahezu unbekannt sind. Schenker, Goldmann, Dittrich, Katzer (dessen wunderbare Prinzessin Zwölfklang aus dem LAND BUM BUM wahrscheinlich seit meiner Altenburger Produktion von 1988 auch verstummt ist), Herchet – Kopfschütteln bei den Intendanten und Orchesterdirektoren der alten Bundesländer. Wogegen im Osten durchaus profunde Kenntnis von Rihm, Reimann, Holliger, Schnebel, Ruzicka und Lachenmann vorausgesetzt werden konnte. Wie in der Politik ging auch in der Kunst der Blick mehr von Ost nach West als umgekehrt. Keine Klage, nur eine nüchterne Feststellung. Ostberlin, Leipzig und Karl-Marx-Stadt waren halt nicht Darmstadt oder Donaueschingen.
Als 2008 der neue Konzertsaal der Dresdner Musikhochschule zu weihen ist, fällt schnell der Entschluss, Friedrich Goldmann als alten (und im Unfrieden geschiedenen) Dresdner Kompositionsstudenten mit einem Orchesterstück zu beauftragen. Im Oktober findet die Uraufführung von Wege Gewirr Ausblick statt, sie wird auf CD produziert und erscheint nach Goldmanns Tod (und auf Vermittlung seines Sohnes Stefan) sogar in England. Wahrscheinlich erfährt Schenker über seine Frau, die Schwester Goldmanns, von der Aufführung. Wenige Wochen später jedenfalls liegt die Partitur der 12 Charakterstücke für jugendliches Orchester auf meinem Schreibtisch, verbunden mit der Anfrage, ob die HfM Dresden sich vorstellen könne, die Uraufführung zu bestreiten.
Das Werk springt einen regelrecht an – und meine Einführung begann mit den Worten von Stefan Amzoll, der zum 60. Geburtstag Schenkers schrieb: "Springt der Künstler mit Bildern, Texten, Noten, Figuren heiter um, dringt er gelaunt oder missgelaunt in die Zerrwelt des Fragments, um sie nach seinem Bild umzuformen, experimentiert er mit artigen und abartigen Phantasien, entscheidet er, wann was wo stimmig und unstimmig gerät, wann Wirklichkeit mitläuft und wann nicht, ob etwas kühn, idiotisch, sachlich, frivol, monumental, frech, barbarisch, kitschig, infantil, lachhaft, lustvoll, dämlich, schändlich ist, dann tut er das kritischen Herzens und wachen Auges. Scharf und ganz unsentimental schaut Schenker dabei und fragt, zu welcher Schande die Jetztwelt noch fähig ist und wie man ihr Lichter aufsetzen kann."
Schon die Titel sind eine Welt für sich und durchschreiten das gesamte Kompendium Schenkerscher Themen: 'Beethovens Geist erscheint', 'Horch, der Dichter spricht nicht', 'Aus der Fauna', 'Marschierstolpern', 'Im Parlament'… Anfangs noch etwas vorsichtig, nähern sich die Studierenden der durchaus nicht vertrauten Welt eines Musizierens auf Messers Schneide – die Aufführung findet in Teilen erstmals im Frühjahr 2010 innerhalb eines Konzertes in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk statt. Erste Begeisterung über das ungestüme Stück und seine anspringende Attitüde ist bei Hörern, Kollegen, Experten zu registrieren. Hier wird nicht intellektuell verklausuliert oder strukturell abgesichert – Schenker ist viel zu sehr Musikant, die Phantasie geht gern mit ihm durch, und eher sind seine Partituren zu üppig, als dass sie ins Verstummen führten.
Im Herbst kommt das komplette Werk zur Uraufführung und erscheint (gemeinsam mit Schumanns 2. Sinfonie und unter dem bewusst vieldeutig gesetzten Titel: Avantgarde aus Dresden) auf einer CD des Hochschulsinfonieorchesters. Peter Zacher notierte in seiner Besprechung: "Wenige Sekunden genügten für die Feststellung, dass Schenker der Alte geblieben ist und sich nicht angepasst hat. Hart, unversöhnlich, chaotisch, oft brutal mutet seine Musik an, und man muss genau hinhören, um manchen Witz aus dickem Orchestertutti herauszuhören. Klemm und seine Musiker ersparten dem Publikum nichts, gaben alles, wie schwer es auch war. Nichts wurde auf Schönheit getrimmt. Und das war gut so, auch wenn mancher den Komponisten zu den bad boys der zeitgenössischen Musik rechnen wird."
V
Im gleichen Jahr ist die Uraufführung des Orchesterkonzerts abzusichern, einer Komposition aus dem Jahr 2007. Innerhalb eines innovativen Konzepts lassen es sich die Brandenburger Symphoniker nicht nehmen, zu Pfingsten ein Musikfest zu veranstalten und es mit einem neuen Werk zu eröffnen, das in Gegenwart des Komponisten vorgestellt und anschließend erstmals aufgeführt wird. Wahrscheinlich durch Vermittlung Schenkers selbst, mit dem ich wegen der Aufführung der 12 Charakterstücke mittlerweile engeren Kontakt hatte, ergeht an mich die Bitte, die Einstudierung zu übernehmen, was mich in die Situation versetzt, innerhalb eines Jahres zwei größere Orchesterkompositionen Schenkers dirigieren zu dürfen – die Formulierung: 'seines Spätwerks' ist, wie wir nun wissen, zeitlich zwar korrekt, wirkt dennoch unangemessen.
Das Stück nimmt nichts zurück, geht eher aggressiv nach vorn und endet aufrüttelnd. Es ist geprägt von einem kompakten Satz. Anknüpfend an ältere Vorbilder (Hindemith und Bartók etwa schrieben Konzerte für Orchester) werden die verschiedenen Instrumentengruppen in den Mittelpunkt gestellt und virtuos bedient. Das Werk ist dreisätzig, "Szenen", "Canti" und "Netze" sind die Teile überschrieben, die "Szenen" beginnen mit einer Introduktion, die am Ende der "Netze" wiederkehren und mit Material des letzten Satzes verknüpft werden. Verschiedene deutliche Anknüpfungspunkte finden sich: Szene 1 (von 5) beginnt mit einem Posaunen- und einem Schlagzeugtrio – Schenker war Posaunist, sein Bruder ist Schlagzeuger und hat mit ihm die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler gegründet. Szene 2 ist dem Freund Friedrich Goldmann gewidmet, ein kammermusikalisch besetztes Scherzando. Szene 3 ist – in Anlehnung an den großen Boulez und sein serielles Schlüsselwerk Le marteau sans maître – mit dem Titel "Les maîtres avec marteaux" überschrieben und geht umstandslos zur Sache: Drei Schlagwerker hämmern im dreifachen forte auf Stahlplatten, Glocken, Donnerbleche (worauf sonst!) und allerlei metallisches Gerät. Nach und nach kommen die Orchestergruppen hinzu, es beginnt ein furioses Tutti, das dem Titel alle Ehre macht; ein weiteres Mal balanciert Schenker lustvoll auf dem Rasiermesser, dabei in Kauf nehmend, nicht verstanden zu werden. Indessen ist die Musik durchstrukturiert bis ins Detail und endet übrigens im dreifachen piano. In die Vielstimmigkeit gesteigerte Linien der Streicher prägen Szene 4, deren Mittelteil von einer choralartigen, statischen Passage eines Flöten- und Posaunentrios gebildet wird, ehe neuerlich die Linien anheben, diesmal aufgeteilt auf Streicher und Bläser und in emphatischem Gestus vorgetragen. Ein skurriles Klarinettentrio dominiert das Finale (Szene 5), feroce schlägt wütend das Tutti dazwischen. Individualität verschiedener Soli stehen im zweiten Satz im Vordergrund, von Geräuschflächen und Akkorden begleitet. Eine fast geisterhaft zu nennende Atmosphäre ohne Ziel, rätselhaft und unstet. Ungeduldig strebt der 3. Satz dem Ende entgegen, La valse grüßt von fern und wird noch einmal übersteigert – die Schlussformel von Schenkers Orchesterkonzert greift direkt auf Ravel zu. Ein Tanz am Abgrund also auch hier.
VI
Anders als erwartet ist Schenker als Korrektiv bei der Einstudierung seiner Stücke sehr zurückhaltend, mischt sich wenig ein, ist selbstkritisch und kompromissbereit: Eine rhythmisch wie tonlich quasi unspielbare Passage der Celli und Kontrabässe im Orchesterkonzert wird umstandslos gestrichen. "Tacet – es ist genug Lärm drum herum". Zeigt sich hier die Milde des gereiften Komponisten? Wenig zurückhaltend sind seine Pläne hinsichtlich neuer Kompositionen. Eine neue Alpensinfonie für den Bayerischen Rundfunk ist in Arbeit, in Gesprächen entwirft Schenker das Panorama eines neuerlichen Riesenwerkes. Es bleibt unvollendet. Teile davon zeugen von ungeheurem Schaffensdrang bis zum Schluss, die Partitur quillt über, ist üppig wie eh und je und an der Grenze des Spielbaren. Warum auch nicht, das ist das Privileg aller Großen, dass sie uns nach vorn stoßen und weiterbringen.
Zu einer wundervollen Begegnung kam es 2012. Der neu etablierte Leipziger Kompositionswettbewerb des Festivals "Hofklang" benötigte eine Jury. Steffen Kühn, Architekt und künstlerischer Leiter des ambitionierten Projekts, das vom Büro Kister Scheithauer Gross getragen wird, lud auf meinen Vorschlag hin Schenker ein, der zum Zeitpunkt der Sitzung in der Denkmalschmiede Höfgen logierte, um zu komponieren. Von Dresden kommend, holte ich ihn im Auto ab. In großer Direktheit und Ehrlichkeit wurden die zu bewertenden Kompositionen begutachtet, die er bestens studierte und deren Schwächen und Stärken er analytisch einwandfrei, jedoch jederzeit gerecht beurteilte. Befürchtete Konflikte mit einem unbequemen Komponisten blieben völlig aus. Dankbar ließ er sich wieder in seine Enklave chauffieren. Der aufgeblähte Leib verriet bereits die Zeichen der Krankheit. Schenker klagte über Schmerzen, ärgerte sich über seine ungesunde Lebensweise und fürchtete sich vor der anstehenden Operation, wirkte weniger vital, ohne jedoch resigniert zu sein.
Es bleibt die Erinnerung an einen sperrigen, aber überaus liebenswerten Menschen. Eine irritierte, melancholisch gestimmte Rückfahrt allein nach Dresden beschloss die letzte Begegnung.
VII
"Meine Damen und Herrn!" – plärrt es in einem der 12 Charakterstücke ("Im Parlament") inmitten eines maschinenartigen Orchestertuttis emphatisch aus dem Munde eines Spielers. "Globa", "Mora", "Kultuhu", "Gerechtihie"… Dann rotiert wieder die Musik und neue Wortfetzen sind erkennbar, das besonders köstliche „Friedifreidiheidifrie“ prägt sich in Zeiten der Model-Shows besonders ein – alles mündet in eine leicht resigniert, jedoch nüchtern und sachlich vorzutragende Schlusspointe: "Sie können nicht". (Am Vortrag dieser Worte hat Schenker in den Proben fast am längsten herumlaboriert.)
Danach schweigt die Musik, ehe sie mit "Es schlägt Dreizehn" neu anhebt, mit "Im Nebel" fortsetzt und mit "Hinaus!!" schließt: Die Musiker schalten in einem grässlich lärmenden Tutti ihre Handys an und spazieren von der Bühne. Der Dirigent rührt noch einige Takte stumm den Takt – Ende.
Friedrich Schenker ist tot – es schlägt Dreizehn und wir stochern im Nebel mit unseren Nachrufen und Würdigungen, wo doch die Lösung so einfach ist: Hinaus!! Macht Musik, lustvoll auf Messers Schneide. Seine ansteckende Phantasie, sein wacher Geist und sein kompromissloses Komponieren – sie werden uns fehlen, sollten uns aber die Richtung weisen.
Ekkehard Klemm
Dresden, den 13.02.2013