Morgen früh wird Christfried Brödel mit einem Festgottesdienst feierlich aus dem Amt des Rektors der Dresdner Hochschule für Kirchenmusik verabschiedet. Mit »Musik in Dresden« blickte er zurück – und nach vorn.
Vorwende – Nachwende
Das Programm und die inhaltliche Ausrichtung der Ausbildung an der Hochschule für Kirchenmusik war vor und nach der Wende gar nicht so unterschiedlich. Natürlich hatten wir in der DDR andere Gegebenheiten. Wir lebten quasi am Rande der Gesellschaft, und hatten uns mit diesen Verhältnissen einigermaßen abgefunden. Dann kam die friedliche Revolution und mit ihr ein anderer Wind – in der Kirchenmusik hatten wir Probleme, uns darauf einzustellen. Die ökonomischen Strukturen änderten sich: auf einmal musste man Sponsoren gewinnen, Fördermittel einwerben. Das war den Kirchenmusikern fremd. Der Ehrlichkeit halber muss man sagen: die DDR hat Kirchenmusiker nicht als Musiker angesehen; im Kulturbetrieb spielten sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Rolle. Und diese Situation hatten die Kollegen verinnerlicht; sie hatten Mühe, in die "freie Natur" hinauszutreten und zu sagen: wir sind nun mit den anderen als Kulturschaffende unterwegs! Manche haben noch heute damit zu tun. Andererseits haben wir heute natürlich ganz andere Chancen.
Eine Tendenz sehe ich übrigens: die Kirchenmusik geriet bald nach 1990 wieder an den Rand der Kulturszene. Bei der Kulturplanung wird sie quasi nicht einbezogen. Und das ist auch in Dresden so.
Idealismus – Lebensunterhalt
Die Meißner Kantorei habe ich immer als Hobby betrieben – über vierhundert Konzert habe ich zum Beispiel ohne Honorar dirigiert, und werde das auch weiter so halten. Das Ensemble ist schon eine Ausnahmeerscheinung – und natürlich jetzt schwieriger zu managen als früher, weil begabte junge Sänger dahin gehen, wo es Geld gibt. Ich bin allerdings trotz meines Alters immer noch optimistisch – auch, weil ich sehr viel Gutes erfahre. Dass etwa eine Aufführung der Matthäus-Passion wie letzte Woche noch möglich ist, wo alle Musiker auf ihr Honorar verzichten, finde ich ermutigend. Man darf natürlich nicht ignorieren, dass viele Musiker davon leben müssen. Aber dass es bei solchen Projekten so viel inhaltlichen Schwung gibt, ist für mich ein Hoffnungszeichen.
Mathematik – Musik
Ich habe eigentlich immer gern beides im Blick gehabt. Musik habe ich eigentlich schon immer gemacht: mit 14 hatte ich schon ständigen Kantorendienst. Beide Bereiche haben sich befruchtet; wenn ich auf dem einen vorankommen wollte, musste ich das auch auf dem anderen tun. Eine bittere Zeit war das, nachdem klar wurde, dass ich aus politischen Gründen nicht meinen angestrebten Beruf, den des Hochschullehrers, würde ausüben dürfen. Die Musik hatte ich vornweg als Beruf nicht im Blick gehabt – dass es sich dann so ergab, habe ich nicht bereut. Durch sie habe ich ein so erfülltes und reiches Leben gehabt, dass ich dafür dankbar bin. Ich habe an der TU Dresden und der TU Ilmenau immer mal Vorträge gehalten über Mathematik und Musik. Es gibt ja zwei Typen Musiker: welche, die aus dem Bauch heraus rein emotional musizieren, und welche, die sich der Musik über die Erfassung von Strukturen, Proportionen, Zusammenhängen nähern. Ich gehöre sicherlich zur letzten Gruppe; das Denken in Strukturen hat mir beim Musizieren immer genützt. Ich möchte aber die beiden Wege nicht bewerten oder aufrechnen; das Ergebnis zählt, beides sind legitime und gute Wege, und es kommt Gutes dabei heraus.
Beruf – Zukunftspläne
Die letzten Jahre sind für mich künstlerisch sehr reich gewesen; das hatte ich gar nicht so erwartet. Da war zum Beispiel der Kirchentag in Dresden, wo wir ja drei eigens geschriebene Werke von Hans Peter Türk, Reiko Füting und Jörg Herchet uraufgeführt haben. Dann, um nur die herausragenden Konzerte zu nennen: die Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Meißner Kantorei mit einem erfüllten Konzert in Meißen. Oder, im letzten Jahr, die Thomaner-Festmusik in der Thomaskirche: Heinz Holliger war beauftragt gewesen, eine Komposition zum Reformationsfest zu schreiben. Das Stück erwies sich für die Thomaner als nicht geeignet. Thomaskantor Billler fragte mich, ob ich die Uraufführung mit dem Ensemble vocal modern übernehmen könnte. Am 3. November haben wir das Werk in der ausverkauften Thomaskirche gegeben; für die Knaben wäre das nicht zu schaffen gewesen, aber so ist es gut ausgegangen. Dann vielleicht noch mein Abschiedskonzert mit der Hochschule: mit einem Bach-Programm, mit Uraufführungen von Matthias Drude und Reiko Füting, schließlich letzte Woche die Matthäuspassion… Es hat sich viel Schönes ergeben.
In der Zukunft hoffe ich weiterhin Chancen zu finden, zu musizieren. Als nächstes fliege ich nach Mexiko: Jörg Herchet hat für die Kathedrale von Mexico City einen Auftrag für eine Marienkantate erhalten. Ausgerechnet am Heiligabend bekam ich den Anruf, ob ich das Dirigat übernehmen könnte… Die Meißner Kantorei hat sich neu formiert, auch das Ensemble vocal modern leite ich weiter. Dann habe ich vor, das Eine oder Andere zu veröffentlichen: ich arbeite an einem Büchlein über Chorleitung, das im Bärenreiter Verlag erscheinen wird. Gern würde ich noch über die Kirchenmusik der DDR schreiben – ein Punkt, der in Vergessenheit zu geraten droht. Gerade bin ich noch vom Bischof angesprochen worden, an einer "Querschnitts-Visitation zur Kirchenmusik" mitzuarbeiten. Ach, ich habe eigentlich keine Sorge, Langeweile zu haben. Und ich begreife das Ende meiner Berufstätigkeit als einen völlig normalen Schritt: es ist auch ein Anfang, und ich hoffe, wenn ich gesundheitlich dazu in der Lage bin, da noch einiges tun zu können. Auch als Kulturgenießer übrigens: was immer hat zu kurz kommen müssen, waren Besuche des Schauspiels oder der Oper. Dafür habe ich nun mehr Zeit, und darauf freue ich mich.