In den zwanziger Jahren schrieb Stefan Zweig seine "Sternstunden der Menschheit"; nur eine einzige davon ist musikalischer Natur. Ihr Protagonist: der Komponist Georg Friedrich Händel. Was manchen Musikliebhaber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen lässt: gute Güte, da kommt doch wohl nur ein Werk in Frage: Johann Sebastian Bachs Cello-Suiten! Wer solchermaßen aufstöhnt, verkennt, dass damals so gut wie kein lebender Mensch diese Suiten im Konzert hören konnte. Irgendwann fand der Cellist Pablo Casals dann die vergessenen Bach-Noten im Antiquariat, spielte sie auf Platte ein. Und heute gelten sie als das Opus aller Opera; logisch, dass die Cellisten des Erdballs an den Suiten hängen, zu den Suiten drängen. Sie sind tägliches Übe- und Konzertfutter geworden; an ihren Einspielungen misst man den Künstler.
Nun haben zwei mit Dresden verbundene Instrumentalisten ihre Neueinspielungen der Suiten vorgelegt: der Cellist Jan Vogler, im Nebenberuf Intendant der Dresdner Musikfestspiele und des Moritzburg Festivals, und Nils Mönkemeyer, bis vor kurzem Bratschenprofessor an der hiesigen Musikhochschule – und 2013 erneut einer der Stargäste auf Voglers Kammermusik-Festival. Entstanden sind zwei musikalische Parallel-Universen, einzigartig, unverwechselbar jeweils durch klug abgewogene Interpretationsentscheidungen.
Die Suiten tragen ja auch eine Riesenherausforderung mit sich: niemand weiß genau, wie sie wirklich zu spielen sind. Vor gut dreihundert Jahren schrieb Bach sie in Köthen; das Manuskript jedoch ist – wie auch eine wichtige Reinschrift von seiner Hand – verschollen. So liegen uns heute nur Abschriften, Kopien der Suiten vor, und die unterscheiden sich ärgerlicherweise in wichtigen Details. Jan Vogler hielt sich da bisher wie viele seiner Kollegen streng an eine Kopie von der Hand Anna Magdalena Bachs; seine Einspielungen der ersten und dritten Suite verrieten das an einigen Stellen. Seit Jahren spielt Vogler denselben Satz als Zugabe seiner Konzerte, er scheint nach einer idealen, allgültigen Lesart zu suchen. Auf der CD hält sich der Musiker mit Vibrato immer noch spürbar zurück, übt aber keine völlige Abstinenz mehr wie noch vor zwei Jahren, als er zwei der Suiten auf einem anderen Cello eingespielt hat. Aber er agiert nun freier, macht sich den Notenkosmos wirklich zu eigen. Der Cellist lässt die Musik schlicht und nobel fließen, das Stradivari-Instrument brummt und singt. Und es ist trotzdem immer eine große Hochachtung zu spüren: das hier, atmen einige Passagen, ist der heilige Gral!
Und Nils Mönkemeyer? Der argumentiert selbstbewusst, Bach sei schließlich nicht Cellist, sondern Bratscher gewesen, habe die Stücke bestimmt auf dem kleineren Instrument konzipiert und ausprobiert. Mönkemeyers neue Aufnahme jubiliert, spaßt, spielt mit abenteuerlichen Verzierungen und Akkordbrechungen. Natürlich sei auch er "im Team Anna Magdalena," gibt der Bratscher zu – zwar gebe es "Gegner, die sagen, sie sei nichts weiter als eine dilletierende Hausfrau gewesen. Dagegen spricht aber die Sorgfalt, mit der sie die Suiten abgeschrieben hat und dass ihre etwas verqueren Bogenstriche praktisch immer genau funktionieren." Im Endeffekt ist es für Mönkemeyer eine Erleichterung zu sehen: es gibt keine allgemeingültige Version, keine "Wahrheit". Und das hört man seiner CD, die die ersten drei Solosuiten mit Ersteinspielungen zeitgenössischer Komponisten koppelt, an. Der Bratscher experimentiert ergebnisoffen mit Klangnuancen, er denkt den Notentext vom Tanz her, auch vom pointierten Sprechen, wählt ungewohnte Tempi. Kollegen, die sklavisch auf Korrektheit pochten, würden sich in seinen Augen so lächerlich machen wie jemand, der auf die wortwörtliche Auslegung der Bibel drängt: die Werke erblühen organisch, die Interpretation bahnt sich ihren Weg, sie sucht Antworten auf wichtige Fragen – und hat Spaß daran, neue zu stellen. Wenn Nils Mönkemeyer also am 15. August ein Portraitkonzert in der Evangelischen Kirche Moritzburg gibt, könnte seine Interpretation schon wieder ein Stück gewachsen sein. Spannend ist das!
Wer sich nun fragt, wie man sich als Musiker jahrzehntelang solchen Fragen widmen kann, angesichts der Ärgernisse vor der Haustür – dem müsste man vor Augen halten: wenn die Schlaglöcher dieses Winters längst gestopft und diese und die nächsten hundert Finanzkrisen überwunden sind, werden die Solosuiten Johann Sebastian Bachs wohl immer noch erklingen. Insofern ist die Beschäftigung mit ihnen eine Begegnung mit der Ewigkeit. Nils Mönkemeyer und Jan Vogler haben zu ihnen einen jeweils ganz eigenen, überzeugenden Zugang gefunden.
Nils Mönkemeyer, "Bach und Mehr", erschienen am 15. Februar bei SONY Classical
Jan Vogler, "the CELLO SUITES", erschienen am 15. März, ebenfalls bei SONY Classical
Eine Textfassung des Artikels ist am 23. März in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.