Ein gleißendes Licht sticht uns in die Augen, die sich gerade an die Dunkelheit in der Semperoper gewöhnt haben. Aus dem Nebel tritt ein Mann hervor, eine Frau trägt er mit letzter Kraft. Sie liegt leblos in seinem Arm. Sein Gang ist starr, sein Gesicht versteinert. Dunkelheit umgibt das Paar, die Lichter wirken wie ein unrealer Kontrast auf diese erste Szene. Eine Vorwarnung, ein Vorausblick.
Romeo und Julia? Alles nichts neues. Die Liebesgeschichte von Shakespeare hat bereits Generationen weltweit inspiriert, zum Weinen gebracht, bewegt. In der Semperoper wurde am Freitag eine Interpretation uraufgeführt, die allerdings selbst dem abgeklärten Zuschauer die Augen öffnen möchte. Stijn Celis folgte beim Erschaffen seiner Vision, und bringt ein fühlbares „Heute“ in das kunstvolle Ballet. Ganz im Sinne von Direktor Aaron S. Watkin verwischt er in der Choreographie die Grenzen zwischen traditionellem klassischem Tanz sowie zeitgenössischem Ausdruck.
Für Stijn Celis ist es ein Novum gewesen, ein nicht auf Märchen basierendes Handlungsballet auszugestalten. „Die Zeit ist gekommen, ein größeres Spektrum zu zeigen, in dem ich den Komplex des Erzählens erweitere und die darin handelnden Charaktere stärker entwickle,“ erklärt der belgische Choreograph, der selbst schon als Tybalt in »Romeo und Julia« auf der Bühne zu erleben war.
So verfolgen wir hautnah, wie sich gleich nach der Eröffnungsszene aus einer Gruppenchoreographie ein scheinbar unkontrolliertes Chaos entwickelt. Den Dynamiken der Musik folgend, springen und rollen die Tänzer zu schnellen Läufen in den Streichern, als wären sie Marionetten, die auf den Saiten aufgespannt sind. Natürliche Bewegungen fließen in Balletfiguren, Einzelbewegungen vereinigen sich in einer Gruppendynamik und der Wirbel bleibt auch noch nach mehreren Minuten nicht nur spannend, sondern durch wohldosierte Impulse packend. Sowohl das Semperoper Ballet als auch die unter Paul Connelly spielende NDR Radiophilharmonie bauen über den gesamten Abend eine gemeinsame Dynamik auf, deren Intensität der Tragödie ein fruchtbares Fundament bietet.
Besonderes Augenmerk in der Herauskristallisierung des Konflikts hat Celis auf den Ausdruck der jeweiligen Männer- und Frauenrollen gelegt. Die dynamischen, energetischen und selbstbewussten jungen Männer sprechen bei ihm eine moderne, fast sportliche Körpersprache. In ihren chicken Anzügen geben sie ein zeitgemäßes männliches Idealbild ab: unabhängig, elegant, stark. Die Frauen hingegen scheinen von ihren Rollen innerhalb des Clans stärker beeinflußt zu sein. Mit starrem Arm und eiserner Miene ein Kind wiegend, im Gleichtakt mit den anderen Frauen, stehen die konservativen Capulets den lässig agierenden, aber gleichzeitig verbissen voranschreitenden Montagues gegenüber. Die fast streetdanceartigen Moves der letzteren heben sich spürbar von den etwas steiferen Bewegungen der Capulets ab, und verschärfen im Zusammenspiel auch visuell die Kluft zwischen den beiden Lagern.
Gekonnt unterstrichen werden die Frauenrollen durch Maske und Kostümierung. Die Kleider des traditionellen Lagers stehen den frechen Outfits der Montagues gegenüber. Strenge Perücken und hippe Zöpfe, farbliche Blickpunkte, die man im Tanzgewirr verfolgen kann, ein schlicht-weißes Hemd der zwischen den Fronten stehenden Julia. Der in die ausgelassene Gesellschaft getragene Sarg sprengt die Aufmerksamkeit des gewagtesten Kostüms: der knallig pinke Wagenradhut wird bald zu Boden geworfen, und das gleichfarbige Sommerkleid biegt sich mit dem vor Trauer bebenden Körper der Mutter. Die Kostüme von Catherine Voeffray kommentieren die Handlung in einer intensiven Art und Weise, ohne abzuheben oder abzulenken.
Dasselbe gilt auch für Bühne und Licht, das von Jan Versweyveld geschaffen wurde. In einem streng-elegantem, fast klobigen, grau bis schwarz gehaltenen Häuserkomplex findet die komplette Handlung statt. Auf die Bühne getragene Stühle schaffen neue Räume vor bekannter Kulisse, ohne den Blickpunkt auf die Gesamtsituation zu verwischen. Einige wenige mobile Bühnenbauteile werden je nach Bedarf ins Geschehen gerückt oder gerollt. Die Distanz zwischen den Häuserteilen betont auch visuell: hier treffen zwei Welten aufeinander, die sich eigentlich nicht berühren sollten.
Doch nicht nur die Bewegungen, Kostüme, Bühne und Licht sind für die Alleinstellung der Produktion verantwortlich. Das vielleicht erstaunlichste an dieser Inszenierung ist, dass die Tänzer intensiv schauspielern. Nebenhandlungen – teilweise nicht komplett nachvollziehbar – bis hin zu Szenarien: auch mit wenigen Gesten erstellen die Tänzer ein passendes Gesamtbild.
Der Anteil der natürlich gehaltenen Bewegungen war höher als in vielen klassischen Produktionen. Man hörte außerdem zusätzliche Klangeinlagen und amüsierte sich über humorvolle, eingeschobene Elemente, wie eine verunsichert umherlaufende, gackernde Amme.
Für mich war der Star des Abends die vielseitig tanzende Julia: Julia Weiß gelingt es, mit fließenden Bewegungen und einer beeindruckenden Beinarbeit tänzerische Spannungen aufzubauen, denen es nicht an Dynamik fehlt. Durch ihren Ausdruck spürt der Zuschauer, wie sich die Lage langsam zuspitzt, welche Leidenschaften beim Erblicken des geliebten Romeos in ihrem Herzen aufflammen, und welcher Schmerz sie durch Trauer, Wut und Hilflosigkeit peinigt.
Im Zusammenspiel mit Romeo (Jiří Bubeníček) erleben wir eine getanzte Leidenschaft, die technisch und ästhetisch keine Grenzen zu kennen scheint. Man spürt, mit welcher Überzeugung die Verliebten füreinander einstehen, was sie bereit sind zu geben, welche Überzeugung sie zur Überwindung der Familienstruktur einsetzen.
Für eine Balletbühne wirken manche kleinen Gesten wie groß ausgetanzte Statements. Sie dürfen wiederholt aufleuchten, auch wenn Celis manchmal nicht den Mut zur Entfaltung oder Ausdehnung hat. Romeo sitzt am Fenster, an der Silhouette erkennt man seine Gedanken. Oder: das Paar tanzt, und für wenige Sekunden liegen sie still, bewegen sich nach dem intensiv miteinander kreirten Liebestraum, und schauen sich das erste mal tief in die Augen. Oder: Romeo trägt seine Julia. Um ihn herum ist Dunkelheit, gleißendes Licht von oben, aber neben seinen fast kraftlosen, verkrampften Schritten passiert gar nichts.
Diese unforcierten Bewegungen, direkt aus dem wahren Leben gegriffen, vermischen sich fließend mit traditionellem Ballet, und mit Stilen, die man hier nicht erwartet. Irgendetwas ähnlich dem irischem Volkstanz, Michael Jackson´s Moondance und sogar Hip Hop. Doch egal was es ist, es ist pur, jugendlich inbrünstig, wie das gebrochene Herz des jungen aufbegehrenden Shakespeare. Diese Leidenschaft habe ich in noch keiner Interpretation von „Romeo und Julia“ so kristallklar gespürt.
Romeo entdeckt den leblosen Körper seiner Julia im Sarg. Zitternd nähert er sich, vertreibt die letzten Anwesenden, schleppt sich zu seiner Geliebten. Er hebt ihren eingeschlafenen Körper in die Höhe, trägt ihn, wiegt ihn, drückt ihn an sich. Bebend vor Schmerz läßt er sie zurück fallen, und ergreift das Messer.
Wenige Sekunden nach dem tödlichen Stich wölbt sich Julias Körper unter den ersten Atemzügen nach einer langen Todesstarre. Sie blickt fasziniert ihre verspielt tanzenden Arme und Beine an, die sich langsam wieder mit Lebenssaft und Wärme füllen. Ein Blick zur Seite – sie schreckt zurück und stolpert aus dem Sarg heraus, an die nächste Wand, in die Nische, sie versucht, vor dem Schmerz zu fliehen. Gebeutelt vom Verlust ihres Geliebten wirft sie sich auf den Boden und in die letzte, ewige Umarmung, bevor ihre blutig geschnittenen Arme auf den leblosen Romeo fallen. Die gleißenden Lichter verebben, der Nebel der Dunkelheit legt sich wie ein Schutzmantel auf das Liebespaar. Das Schicksal von Romeo und Julia ist erfüllt.