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»Sympathisches Gespräch mit Gret Palucca…«

»Shakespeare Dances« (Foto: Holger Badekow)

Der junge Tänzer aus Milwaukee, Wisconsin USA, hatte gedacht, nur ein Jahr etwa in Deutschland zu bleiben, als er 1963 die Chance eines Engagements bei John Cranko bekam. Marcia Haydée hatte ihn empfohlen. In der Talentschmiede des „Stuttgarter Ballettwunders“ avancierte John Neumeier zum Solisten und schuf erste eigene Choreografien. Dreieinhalb Jahre Staatsoper Frankfurt am Main folgten, jetzt schon als Ballettchef, mit aufsehenerregenden Neufassungen großer Handlungsballette von Tschaikowskis »Nussknacker« bis Ravels »Daphnis und Chloe«. Die Compagnie brachte er beachtlich weiter, doch musste er um den Rang des Balletts als eigenständige Sparte und Etats unentwegt ringen. So passte es, dass den Einunddreißigjährigen Hamburgs Opernintendant mit Talentgespür, August Everding, 1973 zu sich holte „neue Stadt, neue Compagnie, neue Dimension“. Als der umtriebige Everding bald danach die Generalintendanz in München annahm, versuchte er ihn mit zu ziehen – erfolglos, John Neumeier blieb in Hamburg eine Lebenszeit lang bis heute.

Ballettwunder Hamburg

"Dritte Mahler" (Foto: Holger Badekow)

Der junge Tanzchef aus Frankfurt wurde von den Hanseaten, ihrer Presse, kühl aufgenommen. Das Eis brach, als Neumeier zum Auftakt Scriabins »Désir« als Pas de deux in einer Essenz aller Tanztraditionen hinreißend auf die Bretter einer „Werkstatt“ brachte. Die Ballett-Werkstatt erwies sich aus dem Stand als Erfolgsformat. Die thematisch ausgerichteten BW moderiert der Meister meist selbst. Bis zu acht Ballett-Werkstätten im Jahr bilden das Rückgrat der Tanzpräsentationen des Hamburg-Ballett. Sie entwickelten aus neugierigen Zuschauern im Lauf der Jahrzehnte – am 5. Mai 2013 war die 200. Ballett-Werkstatt auf der Bühne – das spezifisch hamburgische Ballett-Publikum mit Expertise in Tanzkunst, das den Erfolg Neumeiers trägt und weiter beflügelt. 

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Foto: Holger Badekow

Schon die ersten Ballett-Tage zum Spielzeitende 1975 sorgten mit Neumeiers Choreografie zur 3. Sinfonie von Gustav Mahler für Furore. Zum Jubiläum der „40 Jahre John Neumeier in Hamburg“ spielte das Hamburg-Ballett mit dem Rekord, 23 verschiedene Neumeier-Werke in 19 Vorstellungen, innerhalb dreier ballettvoller Wochen. Dieser Marathon einer einzigen Compagnie, nur zwei Gastspiele waren dabei, wurde bekrönt von einer grand Gala am letzten Spieltag der Saison 30. Juni 2013. An diesem Abend feierte Hamburg mit Neumeier dessen fabelhafte Compagnie Hamburg-Ballett, seine 120 choreografierten Ballette in den 40 Hamburger Jahren, feierte auch triumphal ihn, sich selbst.

Nijinsky-Gala XXXIX – 40 Jahre John Neumeier

Ein restlos ausverkauftes Haus mit einem Hype sogar um die Pressekarten, jubelndes Publikum, Kreischen gesetzter Damen die schon die ersten Ballett-Werkstätten erlebt haben könnten, Standing Ovation, Blumen über Blumen auf der Bühne unter einem Konfetti-Regen für den Ballett-Jubilar. Die Hamburger Blätter schreiben am nächsten Tag „eigentlich so wie es immer so ist“ bei den Galas des Hamburg-Balletts. 

Schlussapplaus… (Foto: Holger Badekow)

Neumeier verzauberte mit einer Auswahl ausschließlich seiner Werke von der Anfangsphase bis heute in einem Programm, das „Von den siebziger Jahren bis in die Neunziger – Das einundzwanzigste Jahrhundert und die Zukunft“ überschrieben war. Overtüre des Blicks „zurück nach vorn“ war ein Pas de deux »Die Möwe« von 2002 zur Musik Schostakowitschs, ein Tänzer betritt behutsam das Podest, umschmeichelt die Bretter der Bühne… Der Blick zieht sich über die schon legendären Ballette »Daphnis und Chloe» (Musik: Maurice Ravel), »Othello« (Musik von Arvo Pärt), Tschaikowskis »Nussknacker« in insgesamt 18 Piecen über den Abend. Überwiegend Pas de deux weisen auf die Hinneigung Neumeiers zu dieser Form, zeigen was seine Arbeiten so einmalig macht, das Sichtbarwerden von Gefühlen durch Tanz. Berührend der Abschluss, wie in »Dritte Sinfonie Gustav Mahler« alte Tänzer und Tänzerinnen, ehemals Solisten des Ensembles an junge Kollegen übergeben. 

Generationswechsel

Foto: Steffen Haberland

Der Verzauberer selbst schritt nach Ende des abendlichen sechsstunden Tanzmarathons bis über Mitternacht, nach dem allerletzten der Schlussvorhänge alleine schon auf leerer Bühne tief nach hinten, beugte sich tänzerelastisch zur Seite mit der Geste einer offenen Hand. Übergabe auch von ihm? Der Einundsiebzigjährige – manche Quellen sagen Vierundsiebzigjährige – hat einen Vertrag bis 2015. Über danach, eine Vertragsverlängerung, würde zwischen ihm und dem Senat der Stadt Hamburg hart verhandelt, ist die mitgeteilte Sprachregelung. Wenn nicht schon der Gratulationswunsch an Neumeier für "eine erfolgreiche und beständige Zukunft" von Bernd Neumann der Hinweis auf das Ergebnis ist. Der Kulturstaatsminister würdigte John Neumeiers umfassendes Engagement für Ballett und Tanz, das Hamburg-Ballett als eine der besten Compagnien Europas. 

Die Kulturförderprogramme des Bundes schlössen auch zunehmend Tanz und Ballett ein. Das von Neumeier 2011 initiierte und am Ballettzentrum Hamburg angesiedelte Bundesjugendballett wird mit jährlich 750.000 Euro weiter finanziert, zunächst bis 2014. Mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes wurde 2010 die Stiftung »Tanz – Transition Zentrum Deutschland« gegründet. Neumann kündigte auch einen Tanz/Ballett Kongress in 2014 an.

Neumeier in Sachsen

Christoph Albrecht, der 1991 Intendant der Staatsoper Dresden geworden war, hatte über viele Jahre Neumeiers Weg begleitet, zuletzt 10 Jahre als Ballettbetriebsdirektor des Hamburg-Ballett. Die Freundschaft mit „John“ wirkte auch für Dresden, solange Albrecht an der Semperoper war, bis 2003. Mit seinen Worten: „Das Hamburg Ballett gastierte während meiner jeweiligen auswärtigen Tätigkeit zweimal an der Kölner Oper und ebenfalls zweimal (*) an der Semperoper. Vor allem aber gab John Neumeier zwischen 1991 und 2003 dem Ballett Dresden sieben Choreografien, zwei davon als Geschenk, und kreierte »Der Nachmittag eines Fauns« Debussys für drei Mitglieder der Dresdner Compagnie. […] Dem legendären Hamburger Mäzen Kurt A. Körber war es zu verdanken, dass die Choreografierte »Matthäus-Passion« Johann Sebastian Bachs 1992 am 13. Februar, dem Jahrestag der Zerstörung Dresdens, in der Semperoper aufgeführt werden konnte. Ballett und Dirigent kamen aus Hamburg, Chor und Orchester aus Dresden.“ 

DDR – Tournee

Erstmals in Dresden gastierte das Hamburg-Ballett zu den Musikfestspielen des Jahres 1981. Bejubelte wurden die Auftritte im Großen Haus des Balletts mit Neumeier-Choreografien zu »Gustav Mahler Dritte Sinfonie« und »Ein Sommernachtstraum«.

In großer Tournee bereisten 1987 die Hamburger mit Solisten, Chor und Orchester ein weiteres Mal den sozialistischen Osten Deutschlands. Die Opernhäuser Leipzig und Karl-Marx-Stadt, in Berlin die Staatsoper. Dort kam die getanzte »Matthäus-Passion« auf die Bühne, deren Uraufführung 1980 als »Skizzen zur Matthäus-Passion« in der Kirche St. Michaelis kontrovers aufgenommen worden war. Dresden ist ebenso auf dem Gastspielplan der Hamburger gewesen, doch dürfte der Auftritt in der Stadt im Tal der Ahnungslosen – aus politischen Gründen? – gestrichen worden sein. Der Textband „In Bewegung“ enthält lediglich den Eintrag Neumeiers „… in Dresden sympathisches Gespräch mit Gret Palucca.“ 

Nach der Dresdner Premiere von »Ein Sommernachtstraum« an der Semperoper 2002 wurde John Neumeier mit dem Saeculum Musik-Festspiel-Preis ausgezeichnet, der von der Uhrenmanufaktur Glashütte ausgelobt wird. Seit 2003 ist Neumeier Ehrenmitglied der Sächsischen Staatsoper Dresden. John Neumeier der als junger, amerikanischer Tänzer nur ein Jahr in Deutschland bleiben wollte: es wurden 50 Jahre daraus – und ein Lebenswerk.

Opulentes Buch Jubiläums-Balletttage „40 Jahre John Neumeier in Hamburg“, Herausgeber Hamburgische Staatsoper 2013, 464 Seiten, Abbildungen sw/farbe, gebunden 21 x 27 cm, bei Staatsoper und Buchhandel; 25 Euro

 

(*) Tatsächlich sind es laut den Aufzeichnungen des Dresdner Semper-Archivs sogar sieben Gastspiele, welche das Hamburg-Ballett hier gegeben hat.