Mein lieber Schwan, das war ein Tenor, vielleicht wirklich der Wagnertenor des 20. Jahrhunderts, an dem sich bis heute alle messen müssen, die als Lohengrin eben „Mein lieber Schwan“ singen, vom „fernen Land, unnahbar euren Schritten“, von der „Innbrunst im Herzen“ etwas zu vermitteln versuchen, mit der sie als büßender Tannhäuser vor den Papst in Rom traten, oder als Stolzing in „Die Meistersinger von Nürnberg“ das "morgendliche" Leuchten im rosigen Schein zum klingen bringen wollen. Ganz zu schweigen von Tristans Fieberträumen, bei denen allzu oft atemlose, gepresste Deklamationen für Dramatik gelten sollen.
Mein lieber Schwan, er hat den Maßstab gesetzt für musikalische, klangliche und interpretatorische Anforderungen, die an einen Wagnertenor zu stellen sind. Ich meine den Dänischen Tenor Lauritz Melchior, der von 1890 bis 1973 lebte.
Die zahlreichen Aufnahmen können nicht lügen. Melchior stellt bislang alle, die nach ihm kamen in den Schatten. Wenn man von einem Wagnertenor erwartet, dass seine Stimme baritonal grundiert ist, dass er etwas von der Legatokunst versteht, dass er, um den Begriff von Franziska Martienssen-Lohmann zu gebrauchen, zu denen gehörte, die als „Einregister“ – Sänger zu bezeichnen sind, dann trifft das, den Tondokumenten nach, alles zu für Lauritz Melchior.
„Morgendlich leuchtend im rosigen Schein“, aufgenommen 1939, damit lässt sich der Tag beginnen und es lässt sich manches vergessen, was man vielleicht am Abend zuvor von den aktuellen Hügel-Festspielen im Rundfunk gehört hat.
Ganz und gar nicht vergessen habe ich Dresdner Aufführungen mit dem Bassisten, später ins Fach des Heldenbaritons gewechselten Hajo Müller. Im Berliner „Tannhäuser“, meinem Wagner-Urerlebnis, fiel in einigen Vorstellungen, die ich dann nach der „Initialzündung“ besuchte, der hoch gewachsene Sänger in der Partie des Landgrafen auf. Er war für mich als Holländer in Erhard Fischers Inszenierung von 1968 beeindruckender als Theo Adam in der Premiere.
Aber die besten Erinnerungen habe ich an Hajo Müller als Wotan, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in Dresden, im Großen Haus. Wotans Abschied, „Abendlich strahlt der Sonne Auge“, diese Ahnung der folgenden Vergeblichkeit, diese Zuneigung zur Brünnhilde, in der leicht geneigten Haltung des großen Mannes, alles ist präsent, als wäre ich gestern Abend in der Vorstellung gewesen.
Und dann, Jahre später, längst hatte sich Hajo Müller von den großen Partien verabschiedet, da wird durch ihn eine kleine Rolle, eine Nebenrolle, ganz groß. In „Capriccio“ von Richard Strauss konnte man ihn zuletzt in der Partie des Haushofmeisters erleben. Am Ende, wenn das Mondlicht in den Salon fällt, kurz bevor die Gräfin ihren berühmten Monolog singen wird, betrat Müller bedächtig, gebeugt, am Stock gehend, die Bühne, dann der berührende Gesang des alten Mannes, der Monolog der Gräfin, und die letzten Worte des Bediensteten, „Frau Gräfin, das Souper ist serviert.“
Und noch einen Dienst vollzog er, langsam schloss Hajo Müller den Vorhang, für heute genug, morgen geht der Gesang weiter, das war seine Haltung, kein ausgeführter Regieeinfall. Bewundernswert, sicher kein Weltstar, aber ein Ensemblesänger von Weltklasse.
Ricarda Merbeth ist seit ihrer erstaunlichen Karriere, die in Magdeburg begann, nach kurzem Engagement in Weimar an die Wiener Staatsoper führte, wo sie mit dem Titel einer Österreichischen Kammersängerin geehrt wurde, eine weltweit erfolgreiche Sängerin. Zu ihrem international geschätzten Repertoire gehören inzwischen einige Partien aus Opern von Richard Wagner. Als Elisabeth in „Tannhäuser“, Freia, Gutrune, Helmwige oder Gerhilde im Zyklus „Der Ring des Nibelungen“, seit diesem Jahr auch als Senta in „Der Fliegende Holländer", tritt sie seit 2000 regelmäßig bei den Festspielen in Bayreuth auf. Ricarda Merbeth hat inzwischen ihren Wohnsitz nach Dresden verlegt, in der Semperoper war sie zuletzt 2008 als Donna Anna zu erleben. Offensichtlich ist für eine Dresdner Künstlerin der Weg zur Pariser Oper, wo sie im Herbst wieder zu erleben ist, leichter zu bewältigen als bis auf die Bühne des Opernhauses ihrer Heimatstadt. Ich erinnere mich sehr gerne an Ricarda Merbeth als Elisabeth in „Tannhäuser“, in einer bemerkenswerten Aufführung des Theaters in Magdeburg, es muss 1996 oder 1997 gewesen sein, Freunde hatten mich aufmerksam gemacht, die Reise habe ich nicht bereut.
Mir ist als schwirrte der Name Waltraud Meier schon seit vielen Jahren in meinem Kopf. Aufnahmen, Fernsehen, Rundfunk, wenn es um Wagner ging oder um Strauss, um Mahler, immer hörte ich von der Mezzo-Sopranistin, die sich dann in die Höhe zum dramatischen Sopran aufgeschwungen hatte, das Mezzo-Fach aber immer weiter pflegte. Die erste direkte Begegnung in Dresden war ernüchternd, Waltraud Meier als Carmen, das war ein ästhetisches Missverständnis auf hohem Niveau. Alles vergessen dann später, die Meier mit der Sächsischen Staatskapelle als Isolde, grandios! Inzwischen hat sie sich die Klytämnestra in „Elektra“ von Strauss erobert, demnächst wieder an der Pariser Oper, als Chrysothemis Ricarda Merbeth, und in der Neuproduktion der „Elektra“, kommendes Jahr in Dresden, werden wir auch Waltraud Meier hier als Klytämnestra erleben. Immerhin, da gibt es tolle Erinnerungen, Gisela Schröter, Anny Schlemm, Renate Behle oder die großartige Reinhild Runkel in dieser Partie und nicht zuletzt in der genialen Inszenierung von Ruth Berghaus.
Aber zu Wagner, um dann doch noch mal zu Strauss kommen zu müssen. Zu den Erinnerungen. Sie ist eine Legende, Martha Mödl. Wagners „Parsifal“ gehört nicht zu meinen Favoriten, da fehlt mir noch die entsprechende Aufführung, also halte ich mich an Aufnahmen. Unerreicht bislang für mich der Mitschnitt von 1951 aus Bayreuth unter Hans Knappertsbusch bei Naxos. Martha Mödl als Kundry, der zweite Akt, „Ach! Ach! Tiefe Nacht. Wahnsinn.“ Musikdramatik alter Schule, bisher droht von keiner „neuen“ Konkurrenz. In einer Wagnerpartie, als Isolde oder Brünnhilde habe ich diese Sängerin natürlich nicht erleben können, immerhin im neuen Leipziger Opernhaus hat sie als Isolde gastiert und auch im Dresdner Großen Haus dürfte sie mindestens ein Gastspiel gegeben haben.
Aber, ich habe diese Ausnahmekünstlerin doch erlebt. Da musst du hin, hieß es im Februar 1967, nach Berlin, in die Staatsoper, die Mödl singt die Klytämnestra in der „Elektra“. Immerhin ich kannte die Dresdner Einspielung unter Karl Böhm mit Inge Borgk in der Titelpartie und Jean Madeira eben als von Alpträumen gejagte Mutter Klytämnestra, aber Martha Mödl? Na ja, welch Glück, ich war dabei, viele Gelegenheiten gab es nicht, denn die Inszenierung von Ruth Berghaus verschwand nach nur sechs Aufführungen. Das war damals zu viel, zu ungewöhnlich, diese szenische Reduktion der tödlichen Beziehungen zwischen den Menschen ohne jegliches illusionistische Beiwerk, auf einem Holzpodest vor der Brandmauer. „Eisige Distanz wurde erzählt, aber auch die Sehnsucht nach Nähe.“ (Sigrid Neef)
Aber die so somnambule wie herrschsüchtige Dramatik der Mödl, die schwere, in Rache umschlagende Trauer der Elektra, gesungen von Ingrid Steger, die hilflosen Höhenflüge in den Scheinbildern der Konvention einer Ludmila Dvorakova als Chrysothemis, Theo Adam als Orest unter der Verhüllung eines weiten, blauen Mantels als wollte er sich verbergen vor seinen blutigen Pflichten, das alles habe ich bis heute nicht vergessen.
Und wer den Bass Kurt Moll einmal erlebt hat wird dies auch nicht vergessen können. Dieser samtige, runde Klang, diese absolute Sicherheit, die Schönheit des niemals gefährdet klingenden Tones, das zeichnet diesen 1938 geborenen Sänger aus. Ein Daland ohne ohne Mätzchen in der Berliner „Holländer“ – Premiere 1968. Ein König Marke von besonderer Eindringlichkeit, das konnten wir auch in Dresden mehrfach erleben, Moll war ebenso im italienischen Fach zu Hause, Filippo in „Don Carlo“, er war ein wunderbarer Liedersänger, in München hatte ich das Glück dabei zu sein, der Sänger betrat das Podium im Prinzregententheater, das Publikum erhob sich, zum Schluss, freundliches Insistieren des Publikums, „Bitte, Die Uhr“. Kurt Moll sang die Ballade von Carl Loewe, vielleicht gar kein so großes Meisterwerk, aber die der Moment, das Thema, der erfahrene Sänger, eben diese herzliche Ehrlichkeit, unvergesslich. 2006 hat er sich von der Bühne verabschiedet, als Nachtwächter in Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“, er wusste wohl immer gut, was die Stunde geschlagen hatte.
Zum Schluss noch eine historische Empfehlung, sie gilt Maria Müller, die von 1898 bis 1958 lebte und in Bayreuth, nicht weit vom Grünen Hügel, begraben wurde. Die ganz große internationale Karriere blieb aus, ihre größte Zeit hatte sie wahrscheinlich während des zweiten Weltkrieges, und als der zu Ende war, war auch die größte Zeit dieser wunderbaren lyrisch-dramatischen Sopranistin zu Ende. Ihr Versuch eines Neuanfanges um 1950 in Berlin war nicht mehr so glücklich, glaubt man den Erinnerungen der Zeitzeugen. Umso glücklicher muss ihre Zeit in den 30er Jahren gewesen sein, davon zeugt ein gekürzter Bayreuther Mitschnitt vom „Tannhäuser“ aus dem Jahre 1930, gemeinsam mit dem Tenor Franz Völker gab es in Berlin eine der beglückenden „Lohengrin“ – Besetzungen, und eine so jugendliche Siglinde wie in der Aufnahme, ebenfalls mit Franz Völker als Siegmund, von 1936 hört man selten, bis heute wahrscheinlich. Oder doch nicht?
Wenn es in der nächsten Woche um die Erinnerungen unter dem Buchstaben „N“ geht, dann natürlich auch um Jessye Norman als Siglinde und die konzertanten Ring-Aufführungen im Dresdner Kulturpalast jeweils zum Abschluss der Einspielungen mit der Sächsischen Staatskapelle unter der Leitung von Marek Janowski, „Die Walküre“ zum Beispiel, am 30. August 1981.
Von Birgit Nilsson muss die Rede sein, von Gustav Neidlinger, Sonja Nemirova, die Mutter der Regisseurin Vera Nemirova, von Tomislav Neralic, unbedingt von Harald Neukirch, Günter Neumann und an die Weimarer Diva der 50er Jahre, Katharina Nicolai.
Bis dahin also, herzlich, Boris Gruhl