Ein Staatsakt zur Versöhnung? Es war ja längst besiegelt, dass Helmuth Rilling nach mehr als dreißig Jahren die Leitung der von ihm gegründeten Internationalen Bachakademie, zu der die berühmte Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart gehören, abgeben würde. Dass es an der Zeit sei, einen Nachfolger zu präsentieren. Dass es auch geboten sei, der ehrenwerten Tradition mit frischem Wind und künstlerischer Neugier den Weg in die Zukunft zu öffnen.
Gächinger Kantorei und Bach-Collegium, der Dirigent und Bachspezialist Helmuth Rilling, die hochprofessionellen Sängerinnen und Sänger, das Spitzenorchester, der charismatische Dirigent mit dem Markenzeichen tiefgläubiger Bescheidenheit und demutsvoller Haltung vor dem Werk, ein Wunder aus der deutschen Provinz, das für Jahrzehnte deutsche Herzensfrömmigkeit als Kulturbotschaft in die Welt trägt. Kaum zählbar die Konzerte, die Akademien, die Einspielungen.
Auf diese Botschaft der kulturellen Tradition möchte keiner verzichten. Aber keine Kontinuität in der Kunst ohne Veränderung. Daher wählte man in Stuttgart einen neuen Dirigenten und Leiter der Akademie. Die Wahl fiel auf einen Dresdner: Hans-Christoph Rademann. Helmuth Rilling hatte man dazu nicht befragt. Also ging es nicht gänzlich ohne Verstimmung, bevor am Ende, bei der offiziellen „Stabübergabe“, Rilling seinem Nachfolger ausdrücklich eine „wunderbare, hervorragende Interpretation“ der Bach-Kantate „O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe“ bescheinigte.
Bis es aber an jenem denkwürdigen Abend in der Stuttgarter Liederhalle so weit war, verging einige Zeit. Erst einmal hieß es warten auf die Politprominenz. Einige Besucher versuchten schon mal durch spontanen Beifall darauf hinzuweisen, dass man ja wohl hier nicht in erster Linie auf Gauck, sondern auf Bach, auf Rilling und Rademann warte. Dann wurde auch schon mal „An-fan-gen!“ gerufen. Und dann, fast wie im Märchenfilm, eine Stimme aus dem Off, der Bundespräsident und seine Lebensgefährtin werden angekündigt, das Publikum erhebt sich, das Blitzlicht geht los. Im Gefolge Gaucks Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Oberbürgermeister Fritz Kuhn und viele weitere wichtige Menschen, darunter, extra benannt, Erwin Teufel, Kretschmanns Vorgänger. Die dankbare Verabschiedung von Helmuth Rilling ist das Thema der Ansprachen. Der Bundespräsident spricht von der „Magie eines Menschen“, von der deutschen Kultur, die „immer wieder in der sogenannten Provinz entsteht“, betont die spirituelle Dimension der Musik, Bachs insbesondere, derer ein Mensch bedarf, „wenn das Wasser höher steigt im Lebensgebäude und wir dem Wesentlichen näher kommen.“ Dann weiß Joachim Gauck genau, wo in seinem Schrank die CDs aus Stuttgart stehen. Und da standen einige auch schon, bevor die Mauer fiel, denn Helmuth Rilling kam mit seinen Sängern und Musikern in die DDR, dabei – und das ist schon eine große Ausnahme – fanden die Konzerte nicht nur in den angesagten Kulturzentren statt, sondern eben auch in der „Provinz“. Der Bundespräsident zitierte gar Rostocker Bürger, die meinten, dass Engel durch die Kirche schwebten, als die Gächinger Kantorei einst hier musizierte.
Nach so viel Rückblick dann doch ein Blick voraus. Ministerpräsident Winfried Kretschmann bringt die „Neugier“ ins Spiel, das Motto des ersten von Hans-Christoph Rademann verantworteten Musikfestes Stuttgart, bei dessen Eröffnung diese „Stabübergabe“ zelebriert wird. Und ganz praktisch, nach so viel Besinnlichkeit, sagt er auch die weitere Unterstützung zu, denn auch künftig wolle das Land auf solche Kulturbotschafter nicht verzichten. Oberbürgermeister Fritz Kuhn bleibt nach einer spontanen und sehr weit ausladenden Dankesrede des geehrten Helmuth Rilling nur noch knappe Zeit, um diesem zu danken, vom „Stolz der Bürgerschaft“ in einer „Stadt der Künste“ zu sprechen und vielleicht mit einem Augenzwinkern darauf hinzuweisen, dass das Publikum den „Neuen“ noch kennenlernen werde.
Weil die Musik an diesem Abend auch eine Rolle spielte, hatte es dazu auch schon Gelegenheit, mehr noch, es konnte vergleichen. Während Helmuth Rilling die Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ (BWV 147) vermächtnishaft, bedachtsam und feierlich in wiegenden Bewegungen voranschreitend dirigiert, wird Hans-Christoph Rademann dem festlichen Jubel der Kantate „O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe“ geradezu körperlichen Ausdruck verleihen. Da klingt wunderbare, mutige Unerschrockenheit auf, an beseelter Grundierung fehlt es nicht, aber über allem waltet so herzliche Fröhlichkeit, so bodenständige Spiritualität! Rademann braucht keinen Stab, er lockt und waltet, gibt klare Zeichen mit den Händen, setzt wenn nötig in tänzerischer Bewegtheit den ganzen Körper ein. Das Collegium mit den strahlenden Trompeten und dem filigranen und doch geschlossenem Streicherklang, die Sängerinnen und Sänger der Kantorei steigen voll ein. Aus dem Quartett der Solisten ragt die Mezzosopranistin Anke Vondung heraus, hoffnungsvoll der junge Bassist Michael Nagy, leicht bedenklich der enge Tenor von Daniel Behle, etwas zu allgemein die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller. Am Ende aber ist die Neugier auf den Neuen geweckt.
Frösche, Fliegen, Läuse
Und einen Tag später, am Abend in der Stuttgarter Stiftskirche, nach Rademanns Antrittskonzert, jubelt das Publikum. Auf dem Programm: Georg Friedrich Händels Oratorium „Israel in Egypt“. Hier steht in den drei Teilen der Klage der Israeliten in fremden Land, des Auszuges nach den Plagen der Ägypter und des Lobgesanges der Befreiten, der Chor im Mittelpunkt, insgesamt oder oftmals in spannender Doppelchörigkeit. Und da, so der beglückende Eindruck, finden mit den Sängerinnen und Sängern der Gächinger Kantorei, den Musikern des Bach-Collegiums und dem dynamischen Dirigenten Gleichgesinnte zusammen. Händels Werk über den Weg eines Volkes, bei unbestimmtem Ziel, aber immer angetrieben von neugieriger Hoffnung, und von der Vision einer Freiheit die dennoch Regeln brauchen wird, bekommt in dieser Aufführung des Musikfestes Stuttgart mitreißende Dramatik.
Gerade im zweiten Teil ist die barocke Opernlust dabei nicht zu überhören. An diesem Abend haben Chor und Collegium die besten Möglichkeiten, ihre Virtuosität zu präsentieren. D a ist die beseelte Pianokultur ebenso zu nennen wie aufbrausendes Temperament bis hin zu regelrechten humorvollen Passagen, etwa die lautmalerischen Schilderungen der ägyptischen Plagen durch allerlei ekelerregendes Ungeziefer: Frösche, Fliegen, Läuse und so weiter. Hier kann auch der Altus David Allsopp seiner Gestaltungsfreude freien Lauf lassen. Lothar Odinius ist mit seiner so elastischen wie charaktervoll grundierten Tenorstimme bestens geeignet für die Dramatik der Rezitative. Und der in Dresden ausgebildete Bassist Philipp J. Kaven lässt aufhorchen. Nicht zu vergessen in zwei Duetten die außerordentlich gelungenen Beiträge der Chorsolisten Miriam Burkhardt (Sopran) und David Csizmár (Bass).
Am Ende dann, im Jubel der Befreiten, im ekstatischen Tanz der Prophetin Miriam, mag man so etwas wie staatstragende Frömmigkeit vernehmen können, allein Chor und Orchester mit der so fröhlich alle überragenden Sopranistin Elizabeth Watts feiern hier wohl doch eher mit ihrem „Neuen“ die Neugier auf die Klänge der Zukunft mit ihren neuen Regeln und Visionen bei der Internationalen Bachakademie in Stuttgart.
Deutschlandradio Kultur sendet das Konzert, am 19. Oktober, um 20.03 Uhr.