Gelobt seien die Dresdner Kaderschmieden der Musik – Kreuzchor, Hochschule, Semperoper, Staatskapelle, Philharmonie -, die über alle politischen Wechsel hinweg auf hohem Niveau produktiv geblieben sind. Ihnen nicht zuletzt verdanken wir, daß es derzeit etliche Siebzigjährige zu feiern gibt, die über die Stadt und das Land hinaus gewirkt haben, noch wirken und internationale Sendboten von Dresdner Ansprüchen geworden sind: Hartmut Haenchen, Ludwig Güttler, Jörg Herchet, Udo Zimmermann – und Christian Kluttig.
Kluttig entstammt – damit ist eine weitere Traditionslinie angesprochen – einer Kantorenfamilie. Nach dem Besuch der Kreuzschule studierte er an der hiesigen Hochschule – Dirigieren bei Rudolf Neuhaus und Horst Förster -, besuchte Kurse bei bedeutenden Kapellmeistern wie Arvid Jansons, Igor Markevitch, Hans Swarowsky, Witold Rowicki, wurde 24jährig als Solorepetitor an die Staatsoper verpflichtet und drei Jahre später als Erster Kapellmeister nach Karl-Marx-Stadt, wo er 1975 zum Musikalischen Oberleiter ernannt wurde.
Abgesehen davon, daß Aufstiege im selben Haus die Ausnahme sind, stand der Zweiunddreißigjährige damit neben dem Normalpensum eines Chefs vor besonderen Herausforderungen – zwei Orchester mußten zusammengeführt und Auseinandersetzungen mit einem potentatenhaft agierenden Operndirektor bestanden werden. Nachdem das Opernhaus eher durch spektakuläre Inszenierungen auf sich aufmerksam gemacht hatte, betraf das nunmehr zunehmend die musikalische Seite, eine "Meistersinger"-Einstudierung ebenso wie Konzerte u.a. mit damals noch selten gespielten Mahler-Sinfonien – insgesamt Bestätigungen für den Aufstieg eines hochbegabten, zielstrebig-energisch Arbeitenden, der bald als Kandidat für Spitzenpositionen gehandelt wurde.
Kein Wunder, daß man ihn 1979 als Chef des Händelfestspielorchesters nach Halle berief, wo wiederum Grundlagenarbeit zu leisten war: Gedeckt durch eine extrem ideologiehörige Musikwissenschaft, hatte die produktive Auseinandersetzung mit Händel, auch Aufführungspraktiken betreffend, jahrzehntelang stagniert. Hier war im Hinblick auf internationale Standards eine Aufholjagd fällig – und eben die hat Kluttig besorgt; wobei ihm neben den musikalischen Begabungen eine weitere zugutekam, diejenige, Arbeitsteams um sich zu sammeln, sie zu inspirieren – in Halle reichte es vom Konzertmeister über etliche Sänger bis zum Operndirektor. Was in den elf Jahren bis 1990 geleistet worden ist, darf im Rückblick nicht durch eine Beendigung überschattet werden, die zu den schändlichen Nebeneffekten der Wende von 1989/90 gehört.
Kluttig ging für sechs Jahre als GMD nach Koblenz; auch dort stand er für hohe Ansprüche und ausgreifende Initiativen – Mozart-Konzerte im Görreshaus, Gastspiele u.a. beim Kissinger Sommer, Aufführungen auch der groß besetzten Mahler-Sinfonien; überregionale Anerkennung erfuhr er damals u.a. durch den Preis des Deutschen Musikverleger-Verbandes. 1998 ist er in seine Heimat zurückgekehrt und an den Hochschulen in Dresden und Leipzig sowie im Dirigentenforum des Deutschen Musikrates zu einem gesuchten Lehrer geworden.
Eine schwere Gehörserkrankung, die eine weitere Berufsausübung verhindert, hat über die letzten nahezu anderthalb Jahrzehnte dunkle Schatten geworfen, wohl geeignet, einen Musiker zu entmutigen. Nicht so Kluttig: in zähen Bemühungen hat er sich Möglichkeiten des Musizierens zumindest am Klavier zurückerobert und ist als brillanter Pianist und Begleiter wieder zu hören – eine angesichts der Ausgangslage heroische Leistung.
Zu deren Hintergründen gehört ein in umfassender Weise verantwortliches, "totales" Musikertum, nicht zuletzt ein Kantorenerbe: Leidenschaft mit Sachlichkeit verbinden, ganz und gar für die Sache einstehen, hinter ihr zurücktreten; Bescheidenheit gehört nicht zum Normalbild eines Dirigenten, bei Kluttig verbindet sie sich unangestrengt mit der Autorität des Hochkompetenten. Zeitlebens hat er von sich viel gefordert und sich durch die jeweilige Musik berechtigt gesehen, auch von Sängern und Orchestern viel zu fordern. Das betraf spieltechnische Präzision ebenso wie die Kenntnis des biographischen, ästhetischen, historischen Umfeldes oder einen Anspruch auf Universalität, der in Zeiten zunehmender Spezialisierung schwer zu halten ist, am ehesten aber bei Kapellmeistern einzuklagen wäre. Wie selten sind die geworden, die ein riesiges Opernrepertoire absolviert haben, in barocker Aufführungspraxis, bei den Klassikern und in Mahler-Partituren gleich gut Bescheid wissen und für etliche Uraufführungen avancierter Zeitgenossen bürgen konnten! Obwohl nie autoritär – ein bequemer Chef ist Kluttig nicht gewesen, umso mehr ein unbestechlicher, der die Ensembles dank der Geradlinigkeit seines Arbeitens mitzunehmen verstand.
Ihm und seiner Frau wünsche ich noch viele gute, musikerfüllte Jahre und sage Dank für eine wunderbare, erwärmende, mir wichtige Freundschaft!
Peter Gülke