Ein Land ist im Wandel. Schon lange weht kein grünes Band der Sympathie mehr durch die Bundesrepublik. Katalogisierte Beglückungsversuche wurden mangels Nachfrage ebenso eingestellt wie jene „umsatzstärkste“ Drogerie-Ersatz-Kette, in der beständiges Dummen-TV dröhnte. Tausende Arbeitskräfte blieben auf der Strecke, die Schlecker- und Neckermänner stört das nicht, auch nicht die Schickedanzes, Karstädter et cetera. Immerhin bekamen sie die späte Quittung für ihren massenhaften Tante-Emma-Mord.
Der anhaltende Abschied von Dresdner Bank, FDP, Opel & Co. mag aus verständlichen Gründen von nur sehr wenigen Menschen bedauert werden – das damit entmuffte Gepräge des Landes wird dennoch unübersehbar sein.
Nun macht diese besondere Form des Wertewandels auch vor der Kultur nicht halt. Einer, der in besonderer Weise für das westdeutsche Nachkriegsleben gestanden und auch nach 1989 nicht damit aufgehört hat, dieses Land gut zu unterhalten, ist tod. Paul Kuhn, er war ein Wegbegleiter des Wirtschaftswunders, der flächendeckend aufkommenden Fernsehens, der Unterhaltungsindustrie. Seine Kontinuität, die allenfalls im Elbtal schlecht zu empfangen war, speiste sich vor allem aus Vielfalt. Vom Jazz war er infiziert, als die meisten Deutschen, und zwar im Osten wie im Westen, noch gar nicht wussten, wofür dieses Wort steht.
Paul Kuhn, als Wiesbadener Croupierssohn des Jahrgangs 1928 schon in einen gewissen Glamour hineingeboren, unterhielt gleich nach Kriegsende die Besatzer aus den USA mit deren musikalischen Vorlieben. Zwar stand er schon als Achtjähriger auf der Berliner Funkausstellung vor der Kamera und wurde am Musischen Gymnasium in Frankfurt/Main gründlich im Klavierspiel unterwiesen, dennoch sah er diese Konzerte in Militärklubs als seinen „zweiten Bildungsweg“. Dass dabei auch einige Naturalien und vor allem Notenmaterial mit abgefallen sind, versteht sich.
Aber kaum war die Bundesrepublik ausgerufen, sollte dort wieder Leicht-Sinn vorherrschen. Also Jodeln statt Jazz und Schlager statt Swing. Kuhn arrangierte sich und spielte unvergessliche Titel, die rasch zu Hits wurden. „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ und „Der Mann am Klavier“ waren auch von innerdeutschen Grenzen nicht zu stoppen und wurden zum Markenzeichen für „Paulchen“, wie er nach seinen vielfältigen Shows bald genannt wurde.
Ganz offenbar hat ihm dieses Seichte, das er stets mit großer Ernsthaftigkeit bediente, auch Spaß gemacht. Einen Ausgleich betrieb er in seiner Rolle als Produzent sowie als Chef der Bigband des SFB.
Die Liebe zum Jazz – wer von ihr einmal befallen ist, wird das bestätigen – ist aber unsterblich. Der grandiose Pianist und geübte Entertainer startete mit ihr in seine zweite Karriere, und zwar in einem Alter, da viele andere schon längst ans Aufhören denken. Als Siebzigjähriger, als Achtzigjähriger tourte Paulchen Kuhn durch die Lande und überraschte auf so manchem Podium seine mit ihm gealterten Fans von einst mit einer ganz und gar herzerfrischenden Musik. Auch in Dresden ist ihm das noch mehrfach gelungen, sei es in der Semperoper, sei es beim Jazz im Uniklinikum. Dass es sehr gern im Leipziger Gewandhaus auftrat, mag mit seinem einstigen Lehrer Kurt Thomas zu tun haben, der 1957 von Frankfurt/Main als Thomaskantor nach Leipzig gegangen war.
Den jazzigen Ausklang seines unermüdlichen Tuns schenkte sich der nun mit 85 Jahren bei einem Kuraufenthalt gestorbene Publikumsliebling noch selbst: 2011 spielte er am Flügel von Nat King Cole in den Capitol-Studios von Los Angeles seine „L.A. Sessions“ ein. Dieses Album wurde Paul Kuhns Testament.
Man könnte ihr lauschen, und der deutsche Herbst wird ein klein wenig leichter.
Bis nächsten Freitag ganz herzlich –
Michael Ernst