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Scheußlich quietschbrav, diese Gören!

Sie liebt sie doch alle: Carmen (Anke Vondung). Fotos: Matthias Creutziger

Heftiger, fast wütender Zwischenapplaus aus dem dritten Rang, sobald Josep Caballé-Domenech den letzten Ton einer Arie abgewinkt hatte. Gewaltige "Bravi", aus tiefster Männerbrust gemuht, am Ende für Ensemble und Regieteam. Ja, auch das Premierenpublikum hielt sich am Samstagabend an die ritualisierte Choreographie. "Endlich wieder ein schöner Abend, nach den grauslichen Sachen der letzten Zeit", hörte ich im Foyer. Schwang da Erleichterung mit?

Der Regisseur Axel Köhler weiß, welche Erwartungen das Opernpublikum an eine »Carmen« hat. Als Intendant kennt er auch die finanziellen Rahmenbedingungen eines Opernhauses: eine Inszenierung wie diese muss fünf, zehn, vielleicht noch mehr Jahre verlässlichen Publikumserfolg garantieren. Folgerichtig sehen wir: eine Carmen im Rüschenkleid. Zigeunerinnen wie aus einem Johanna-Spyri-Bilderbuch. Die wagemutigen Chulos, die verwegenen Banderillos, die schönen Picadores und natürlich Escamillo, den schönen Matador, sämtlich ziehen sie in kostbaren Kostümen auf; die Schmuggler tragen das Goldkettchen kokett im weit offenen Hemdausschnitt.

Arne Walthers bewegliche Bühnenarena ist innen blutrot, außen zigarettenaschgrau bis kohlschwarz. In ihre Teile zerlegt, bietet sie Axel Köhler Raum für komplexe, geschickt choreographierte Massenszenen wie für intime Dialoge. Ein auf dem Dach liegendes, müde mit einem Scheinwerfer blinkerndes Schrottauto fügt sich pittoresk in die Szenerie des kleinen Schmugglerdorfes (und darf immerhin dem Bauernmädchen Micaela als Versteck dienen). Carmens erster Auftritt könnte von Hans Rosenthal erdacht sein: sie boxt sich durch eine Wand leerer Pappkisten. Im Gedächtnis bleiben auch eine Karre mit Pappmaché-Melonen und ein neckisches Schaukelpferd-Accessoire, dessen Stahlfederfuß aus dem Wirtshaustisch des zweiten Akts emporwächst.

Bitte mal freimachen: Micaela (Emily Dorn)

Großartig, gewitzt und bewegend sind einige Szenen gestellt: etwa der Auftritt Escamillos, der sich augenscheinlich im Hinterzimmer der Taverne mit drei Mädchen vergnügt hat und über die drei hereintorkelnden, vor Erschöpfung bebenden Mädchen steigt, um sogleich Mittelpunkt der Szene zu sein. Der gutmütige Spott der Truppe, die Micaela als Ablenkung von ihrem drögen Dienst willkommenheißen, und die immer lüsterneren Security-Maßnahmen, die sie ihr angedeihen lassen. Oder das Aufeinandertreffen Josés und Escamillos im Schmugglercamp, das die jeweiligen Gefühle der beiden allmählich verständlich werden lässt. Rechtschaffen, vielleicht etwas bieder entwirft Axel Köhler die größeren Tableaus. Richtig misslungen sind ihm nur die Auftritte der Gassenjungen (wenig glaubhaft: eine Riesenschar Jungen und Mädchen verschiedenen Alters, die allzu bieder intonieren und marschieren), ebenso der Kinderschar zum Schluss: scheußlich quietschbrav, diese Gören!

Darstellerisch gibt Anke Vondung als Carmen die volle Skala von glutheiß bis eisig abweisend, sängerisch überzeugt sie bis auf wenige, etwas flaue Momente. Dass Emily Dorn als Micaela am Ende einen Zacken mehr Applaus einheimst, ist ihrer nicht minder betörenden stimmlichen Präsenz geschuldet. Kostas Smoriginas hat als Escamillo glänzende Auftritte, kann aber nicht durchgängig überzeugen. Und der vor wenigen Tagen eingesprungene Arnold Rutkowski? Singt einen verzweifelten, einen glühenden, einen kochenden Don José, den am Ende die nackte Angst vor dem eigenen Versagen zu einem irgendwie unbefriedigend erzählten, schwachen Verzweiflungsmord treibt.

Das sind denn die Knackpunkte in Axel Köhlers Inszenierung der »Carmen«, die nicht richtig knacken wollen: warum tötet dieser kleine Brigadier am Ende die stolze, ihm haushoch entwachsene Lebefrau? Vielmehr: warum lässt die sich – ein erfülltes Leben mit einem erfolgreichen Torero in Aussicht – so gleichmütig von ihrem miesepetrigen Ex ermurksen? Carmens innere Entwicklung, ihre Gefühlswelt, ihre Träume – die erzählt Köhler nicht glaubhaft aus.

An die insgesamt solide aufspielende Staatskapelle, an einige Sänger, vor allem aber an den Dirigenten Caballé-Domenech sei die Frage nachgeschoben: darf eine repertoiretypische, hundertmal gespielte Musik an einem Premierenabend – an diesem Haus! – so klappern? Vielleicht hätte ja die Souffleuse – vom Ausstatter für einen inszenierten Gag zu Beginn des Abends mit einem hübschen Vorrat an Kokain ausgestattet – dem Dirigenten, der zum Schlussapplaus scheinbar erleichtert die Hand in die Muschel streckte, ein Tütchen davon herausreichen sollen? Wir hätten die Geste verstanden.

Nächste Vorstellungen: 2., 5., 12., 26. Oktober; 22., 25. November.

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