Man müsste … – Gedanken lesen können. Oder zumindest welche haben. Dann wäre der nachträgliche Aufschrei um die allererste Konzertreise des Dresdner Kreuzchores nach China vielleicht zu verstehen. Das wunderbare Lied „Die Gedanken sind frei“ durfte dort nicht erklingen. Es wurde aber weder von maoistischen Betonköpfen noch von päpstlichen Hardlinern verboten, auch nicht weinselig von lutherischen Wasserpredigern, sondern in vorauseilendem Gehorsam „per Empfehlung“ durch eine Agentur untersagt, die sich mit deutsch-chinesischem Kulturaustausch einen Namen und sicherlich auch etwas Geld gemacht hat. Solch eine Verdienstquelle will sich niemand verbauen, etwa indem er einen weltberühmten Knabenchor mit altdeutschem Liedgut – das vor dem ersten Ton alle als Übersetzung vorgelegt werden musste – auf Reisen in den Fernen Osten schickt.
Menschen können frei von Hintergedanken sein. Menschen können auch gedankenlos frei sein. Dann werden sie der Inhalte von „Die Gedanken sind frei“ irgendwann kaum mehr würdig sein. Auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben wird sich umdrehen in seinem Grabe in Corvey bei Höxter. Ein Eklat in Fernost sollte vermieden werden, fiel aber nun auf die vermeintlichen Verursacher zurück und kam so erst recht in die Welt.
Da hat es die Dresdner Philharmonie weit besser gehabt. Die weilte gerade auf ihrer Asientournee auch in einigen Metropolen von China und hatte den Zensurbehörden zuvor nicht einmal Notentexte vorzulegen. Punktierte Köpfe, halbe Köpfe, hohle Köpfe, Pausenzeichen und Wiedererkennungsmelodien – das ist den Behörden offenbar nicht aufgefallen. Über „glückliche Konzerte“ hat sich Chefdirigent Michael Sanderling nach dieser Tour gefreut, die ihn und seinen Klangkörper durch mehrere Millionenstädte von China und Korea geführt hat. „Dresdens Klang unterwegs“ – dieses Motto bekam plötzlich eine ganz und gar neue Dimension.
Die Sächsische Staatskapelle wiederum blieb – nach einer kleinen Europareise mit dem Ersten Gastdirigenten Myung-Whun Chung – für diesmal zu Hause. Allerdings ging im Frühjahr ihre erste Opernpremiere der Salzburger Festspiele auf Reisen – als chinesische Erstaufführung kam Richard Wagners „Parsifal“ dort heraus, sie hat als „Wunderharfe“ inzwischen so eine Art Mittlerfunktion zwischen Orient und Okzident übernehmen dürfen. Wem das was bringt? Die Gedanken sind frei …
Immerhin kam „Parsifal“ in Peking ohne Textänderungen heraus, dafür mit ausgewechseltem Personal. Da muss man nicht mal Gedanken lesen können.
Wieder in Deutschland und bis nächsten Freitag ganz herzlich –
Michael Ernst