Herbert Blomstedt, Sie sind einer der besten Kenner des Kapellklangs; vor mehr als vierzig Jahren haben Sie das Orchester das erste Mal dirigiert, sind auch nach Ihrer Chefdirigentenzeit oft in Dresden zu Gast gewesen. Haben Sie über die Jahrzehnte Änderungen im Klang dieses Orchesters wahrgenommen?
Kleine Änderungen kommen immer vor. Mit jedem Wechsel eines Solo-Bläsers kommt eine neue Farbe hinein. Aber das Wunder ist, dass der Klang fast konserviert geblieben ist! Das hat vielleicht nicht so viel zu tun mit dem Klang selbst, sondern damit, wie man spielt. Die Kapelle artikuliert viel weicher als andere Orchester dieser Qualität. Nicht so hart, aber trotzdem mit großer Tiefe und Wärme. Das gibt einen sehr warmen Klang, der den Hörer umfängt und nicht nur ausgestrahlt ist. Er öffnet mehr, als er trifft. Das ist besonders in der Semperoper festzustellen. Dieser Saal ist wunderbar im Klang, aber nicht leicht zu bespielen, weil die Bläser hinten die Streicher schlecht hören. Die Bläser sind ja Solisten; das ist manchmal sehr heikel. Das führt dazu, dass sie sehr abhängig davon sind, was sie sehen. Und trotzdem musiziert man natürlich am besten, wenn man nach den Ohren geht. Im alten Kulturpalast, wo ich die meisten Konzerte mit der Kapelle geleitet habe, bevor die Semperoper restauriert wurde, war der Klang auf der Bühne sehr schön. Die Bühne war sehr breit, eigentlich viel zu breit; der Abstand zu den großen Reflektorwänden war sehr groß. Leider war der Klang in der Mitte des Saales schon halbiert, er ging verloren – aber es musizierte sich dort sehr schön. Der Klang, den ich dort erlebt habe, hat mich fasziniert.
Ich kannte diesen Klang schon als Kind. Im Radio, das war noch vor dem Krieg, in den Dreißiger Jahren, hatten meine Großeltern ein kleines Bakelit-Rundfunkgerät von Telefunken. Vielleicht 25 Zentimeter hoch, zwanzig Zentimeter breit, mit einer Scheibe, wo man den Deutschlandsender auf der Langwelle finden konnte. Mit unseren heutigen Ohren klang das natürlich sehr begrenzt – aber es war genug, um meine Fantasie anzukurbeln. Ich habe da die "Sächsische Staatskapelle", wie es damals hieß und heute wieder heißt, gehört; und das hat mich verzaubert. Sonntag morgens wurden da die »Mozart-Variationen« von Max Reger gesendet. Ich kannte das Thema vom Klavier her. (singt) Wie Reger das im Klang variierte, war unglaublich. Und als ich dann am Ende hörte: "Sie hörten die Sächsische Staatskapelle unter der Leitung von Karl Böhm…" Und dreißig, vierzig Jahre danach stehe ich vor diesem Orchester und höre diesen Klang live! Das hat mich fantastisch beeindruckt, ich dachte, das ist nicht wahr, was ich höre. Ich bin mit diesem Klang aufgewachsen, das waren zehn, fünfzehn Jahre des Kennenlernens, und ich habe sehr viel profitiert von der Kapelle. Das prägt mich noch heute: wenn ich irgendwo in der Welt dirigiere, sei es in Berlin, Wien, Leipzig oder in Amerika: dieser Klang ist, was ich in Erinnerung habe, und was mich unbewusst leitet. Ich bin glücklich, dass dieser Klang im Großen und Ganzen so geblieben ist.
Nach der Wende ist natürlich sehr viel neues Blut ins Orchester gekommen. Die Musiker kamen nicht mehr so ausschließlich aus Sachsen, aus Dresden, sondern von anderen Orten mit anderen Traditionen. Das hat natürlich einen gewissen Wechsel eingeleitet. Aber der Grundklang ist geblieben, und das hoffe ich, bleibt auch so. Es ist heute leider ein Trend in der ganzen Welt zu beobachten, dass man sehr laut spielt. Das Publikum liebt es: manchmal bekommt der Paukenist am meisten Applaus, weil er am lautesten spielen kann! Und bewusst oder unbewusst richten sich viele Musiker danach. Sie wollen ja alle Erfolg haben, also spielen sie noch lauter und noch schneller, damit sie noch mehr Befriedigung geben können. Das ist sehr gefährlich. Da ist die Kapelle glaube ich eine gute Bremse. Den Klangreichtum kann man nach oben nicht ad infinitum treiben. Aber nach unten kann man das! Leiser und leiser und leiser… Das Spektrum größer und reicher zu machen und auch im mittleren Bereich, im mezzoforte viele Nuancen einbauen: da ist die Kapelle ein Vorreiter.
Ich erinnere mich noch an einen Kommentar des Zweiten Konzertmeisters Rudolf Ulbricht. Er verkörperte die Seele der Kapelle. Enorm empfindsam – im guten Sinne – er reagierte sofort, wenn ihm etwas klanglich nicht passte. Er konnte den Klang des ganzen Orchesters beeinflussen: er saß immer an der Stuhlkante, aber wenn er plötzlich noch einen halben Zentimeter kleiner wurde, wurde das Orchester sofort leiser. Das war eine enorme Selbstdisziplin des Orchesters! Ulbricht sagte mir einmal: "Das ist ja gar nicht differenziert genug!" Ich war des Deutschen nicht so mächtig, aber das prägte sich mir ein: das muss differenziert sein! Das Gleichbleibende ist wichtig, aber die Unterschiede sind das Tragende. Und das kann die Kapelle realisieren; weil die Musiker eben so sensibel sind.
3. SYMPHONIEKONZERT
04.11.2013, 20 UHR, Semperoper
Herbert Blomstedt, Dirigent
Frank Peter Zimmermann, Violine
Sächsische Staatskapelle Dresden
Antonín Dvořák: Violinkonzert a-Moll op. 53
Jean Sibelius: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 43