Liebes Einhorn, denkt der Zuhörer in Reihe 18 wehmütig, mein liebes Einhorn. Da stehst du nun zum letzten Mal auf der Bühne. Deine Geschichte ist tausendmal erzählt worden. Mit einem Anti-Golfkriegs-Konzert begann sie 1991, es folgte viel Straßenmusik, Hochzeiten, kleinere Clubs. Die Musiker: Paul Hoorn, der sang, spielte Akkordeon und Trompete, zeichnete Plakate, übersetzte und schrieb die Texte. Andreas Zöllner, der war der Gitarrist; bald stieß sein Bruder Dietrich dazu, erst spielte der die Bauchgeige, dann auch alles andere. Als letzter kam vor sieben Jahren der Geiger Florian Mayer, der gab dem Blauen Einhorn noch einmal ganz neue Impulse. Was mit ein paar Mitschnitten auf Tonbandkassette begann, mit osteuropäischer Musik und Klezmer, mündete in dramaturgisch ausgefeilte Themen-Alben, durcherzählte Musikwelten. Der Kosmos streckte sich am Ende von Mikis Theodorakis bis zu "Lift", von Rio Reiser bis Tamara Danz, von Bach bis Rap, von Fado bis Jacques Brel. Liedkometen auf russisch, englisch, jiddisch, finnisch, serbisch, portugiesisch und griechisch zischten vorbei. Und im Zentrum der Galaxie pulsierte und glühte geheimnisvoll das Lied vom "Blauen Einhorn" des Kubaners Silvio Rodriguez. "Wir haben das Lied nie verstanden", wird Paul Hoorn an diesem Abend sagen. Zwischenzeitlich hatte die Band das Lied aus ihrem Repertoire verbannt. Es war eine Durststrecke für die Fans. Denn was konnte es schöneres geben, als in Leubener Kirchennächten oder im kleinen Pillnitzer Weindorf zum Abschluss des Elbhangfestes, im heißgetanzten Club Passage oder an lauen Sommerabenden vor den Toren der Stadt dieses Lied als gefühlt dreihundertsiebzehnte Zugabe zu hören? Die kleinen Kinder waren da längst eingeschlafen, die bärtigen Zausel im kratzigen Rolli hingen selig über ihrer Flasche Wein, die Mädchen ließen sich küssen und schmiegten sich an…
So hat "Das Blaue Einhorn" fast ein Vierteljahrhundert lang besagten Zuhörer durch seine Jugend begleitet, durch sein Studium, wo er eine eigene Klezmerband gründete und die größten Erfolge mit Einhorn-Coversongs feierte. An die zwanzig Jahre muss er denken, während Paul Hoorn, dessen schwarzer Hut inzwischen grau geworden ist, mit seiner kratzigen Stimme das Lied von der "Süßkirschenzeit" singt. Zum letzten Mal. Wilder Beifall im "Alten Schlachthof", trampelnde, jubelnde Ovationen der über tausend Besucher, zahllose Zugaben, leise Tränen. Das "Blaue Einhorn" ist Geschichte.
Eine Textfassung des Artikels ist in der "Sächsischen Zeitung" erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier noch einmal abdrucken zu dürfen.