Es gehört zu den prägendsten Erinnerungen im Haus an der Blochmannstraße: Jeden Dienstag und Mittwoch zwängten sich die Mitglieder des Hochschulorchesters für jeweils drei Stunden in die kleine Aula im Keller des Gebäudes. Der ‚Bassbuddha‘, Heinz Hermann, Solo-Bassist der Staatskapelle und Orchesterdirektor an der Hochschule, stand am Eingang und überwachte akribisch die Anwesenheit. Am Pult ein eher kleinerer Mann mit leicht krächzender Stimme, klaren Anweisungen, eindeutiger Zeichensprache, unprätentiös, ehrlich, interpretatorisch geradlinig: Rudolf Neuhaus. Zwei Etagen höher wurden zum Spiel auf zwei Flügeln Dirigenten ausgebildet: Neuhaus die Partien ’singend‘ – inklusive aller denkbaren Unarten der Sänger – und die des Orchesters irgendwie imitierend. Hartnäckig, doch mit Humor werden Kommentare zu den Leistungen am Klavier abgegeben, Klarheit und Deutlichkeit vom Dirigierenden eingefordert, jede Schaumschlägerei mit ironischer Geste bedacht und ins Reich des Unmöglichen befördert. Köstliche Szene bei einer Aufnahmeprüfung Anfang der 80-er Jahre: Ein Kandidat mit Karajan-Attitüde stellt sich vor. „Kommt der aus Berlin?“ – „Ja.“ „Sieht man.“
Das legendäre Zimmer 208 haben etliche Absolventen sehr erfolgreich verlassen: Hartmut Haenchen, Udo Zimmermann, Christian Kluttig, Steffen Leißner, Christoph Bauer, Matthias Liebich, Dieter Kempe, Romely Pfundt, Johannes Fritzsch, Hans Peter Kirchberg, Lutz Bürger, Reiner Mühlbach – mit dem viel zu früh verstorbenen Johannes Winkler wäre ein weiterer wichtiger Vertreter zu nennen. Und fast alle der nachfolgenden Absolventen – Ekkehard Klemm, Eckehard Stier, Michael Güttler, Christoph König, Olaf Henzold, Urs Michael Theus, Milko Kersten, Roland Kluttig u.v.a.m. haben Neuhaus noch erlebt, gekannt, bei ihm hospitiert und ebenso von ihm profitiert. Seine Dirigierausbildung und die durch enorme Repertoirekenntnis geprägte Arbeit mit dem Hochschulsinfonieorchester legte den Grundstein für die folgende und darauf aufbauende von Siegfried Kurz, Peter Gülke, Hartmut Haenchen, Volker Rohde, Alexander von Brück, Jörg Peter Weigle und Christian Kluttig, die die Impulse aufnahmen und weiterführten.
Rudolf Neuhaus wurde in Köln geboren und studierte an der Musikhochschule in Köln bei Hermann Abendroth. 1934-1944 führte ihn ein erstes Engagement ans Landestheater Neustrelitz, dem 1945-1953 das Staatstheater und die Staatskapelle Schwerin folgte, dessen GMD Neuhaus ab 1950 war. Von hier wurde er 1953 an die Staatstheater Dresden und die Musikhochschule berufen, 1959 erfolgte die Ernennung zum Professor. Gastdirigate führten ihn unter anderem an die Dresdner Philharmonie (u.a. Schallplattenaufnahme „Die lustige Witwe“), Staatsoper Berlin, das damalige BSO, Leipziger Gewandhausorchester, Rundfunksinfonieorchester Leipzig und Berlin. In Dresden war er Garant für die Kontinuität an der Dresdner Oper. Als er kam, ging gerade die Ära Kempe zu Ende. Er wirkte neben und mit Franz Konwitschny, Lovro von Matacic, Otmar Suitner, Kurt Sanderling, Martin Turnovsky, Herbert Blomstedt, zuletzt Hans Vonk. In der ihm angeborenen Bescheidenheit trat er 1975 als amtierender stellvertretender GMD hinter Siegfried Kurz zurück, sorgte aber weiter für Stabilität. Neuhaus dirigierte in 32 Jahren ca. 2000 Abende in Dresden, darunter viel großes Repertoire von Mozart, Weber, Wagner, Verdi, Puccini und Strauss, jedoch auch Prokofjew, Wagner-Regeny, Cikker, Fidelio F. Finke, Britten, Gerster, Kunad… – insgesamt beeindruckende siebzig Opern. Am 20. Oktober 1985 verabschiedete er sich mit einem Lohengrin in der Semperoper, am 7. März 1990 verstarb er in Dresden.
Von Johannes Winkler ist der wundervolle Satz überliefert: „Es gab nicht die kleinste Distanz zwischen Lehrer und Schüler. All sein Wissen und Können breitete er vorbehaltlos aus und ließ es zu unserem Besitz werden.“ Ein Satz, so aufrichtig und klar wie Rudolf Neuhaus‘ Dirigat von Walküre, Tristan, Lohengrin oder der Liebe zu den drei Orangen. Sein Geburtstag am 3. Januar jährt sich zum hundertsten Mal.
Die Hochschule für Musik Dresden widmet ihr Konzert des Hochschulsinfonieorchesters am 10. Januar und eine Alumni-Musizierstunde am 18. Januar dem Gedenken an Rudolf Neuhaus.