Hans-Christoph Rademanns erstes Stuttgarter Weihnachtsoratorium war noch im Ohr, da machte die "Dresdner Fassung" des Bachschen Kantatenwerks am Freitag einen besonders gemächlichen Eindruck. Vom Eingangschor der ersten Kantate, einem gesetzten "Jauch-zet, froh-lok-ket", bis zum festlichen Trompetenklang, mit dem die dritte Kantate beginnt und schließt, hingen die Kruzianer in einem runden, allerdings dynamisch wie artikulationsmäßig kaum in irgendeine Richtung ausgeprägten Mittenklang fest. Bis auf den Evangelisten waren die Solisten in den letzten Jahren bereits zu Gast gewesen; Überraschungen sozusagen ausgeschlossen.
Die drei Termine vor Weihnachten sind indes nicht nur dem Dresdner Publikum, sondern auch den Ensembles lieb geworden: ein Initiationserlebnis für die jüngeren Kruzianer, eine Tradition für die Älteren. Für Kreile besteht dabei momentan hörbar kein Anlass, das Werk in irgendeiner Weise zu befragen. Wo etwa Rademann den Bach zu höchstem Gewinn mit einer stacheligen Uraufführung des Dresdner Komponisten Jörg Herchet koppelte und dadurch ein musikalisches Aha-Erlebnis schuf, wo die Weihnachtsgeschichte durch die Erzählung des Evangelisten Daniel Behle in der Stuttgarter Liederhalle am letzten Wochenende zum fesselnden Krimi wurde, glich sich nun der Ex-Thomaner Patrick Grahl in der Kreuzkirche dem ruhigen Duktus des Kreuzkantors, vielleicht auch der Akustik des Orts an, die bei einem direkteren Zugriff bekanntlich außer Kontrolle zu geraten droht. Gediente Solisten wie Andreas Scheibner wissen um diese Fährnisse und fügen sich. Nicht mehr.
Man kann diese Lesart des Werkes bieder nennen, verkennt dabei aber die bewahrende Kraft, die Roderich Kreile der Musik durch die musikalische Konstanz über die Jahre beigegeben hat. Das Weihnachtsoratorium durch Kreuzchor und Philharmonie alljährlich vor Weihnachten zu hören – das hat vor allem in turbulenten Zeiten etwas Tröstliches. Die Publikumsreaktion – langes Schweigen und dann herzlicher, bewegter Applaus – bewies das. Die Traditionshörer müssen aber damit rechnen, dass die stilistische Blase, in der der Kreuzchor seit Jahren schwebt, irgendwann platzt. Einen Steinwurf von der Kreuzkirche entfernt kratzt Frauenkirchen-Kantor Grünert schon am Kreuzchor-Nimbus. Und sollte sich Václav Luks jemals entscheiden, das Werk mit seinem Collegium 1704 in Dresden aufzuführen, muss der Kreuzchor sich anschnallen.
Eine Textfassung des Artikels ist am 16. Dezember in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.