Ich melde mich zurück. Ich war unterwegs, in Leipzig, mal sehen wie dort getanzt wird. Neuerdings auch am Theater für Kinder und Jugendliche, dem Theater der Jungen Welt, am Lindenauer Markt. Im gleichen Haus ist auch das Lofft, die angesagte Leipziger Spielstätte für freies Theater und freien Tanz. Nach einer ersten Gemeinschaftsproduktion mit dem Theater der Stadt für den Nachwuchs, auch schon ein Tanzprojekt, jetzt auf der großen Bühne eine nicht so ganz alltägliche Premiere.
Wenn es so etwas gibt wie Tanztheaterpädagogik, dann lässt sich damit das neue Projekt der Choreografin Heike Hennig gut beschreiben. Sie führt zwei Schauspielerinnen und und einen Schauspieler des Theaterensembles mit zwei Tänzern und einer Tänzerin zusammen, sie spielen gemeinsam und tanzen auch zusammen, das geht recht gut, keiner sticht den anderen aus, na ja, wenn die beiden Tänzer mal kurz breaken, dann bekommen sie natürlich die geballte Ladung an Applaus, aber das sind kleine Einschübe, die haben auch mit dem Stück so viel nicht zu tun. Das Ergebnis, Tanztheater mit pädagogischem Anspruch, es geht um Rausch, so der Titel, „Crystal – Variationen über Rausch“. Die Flucht in den Rausch ist so alt wie die Menschheit. Dass Dionysos zugleich ein Teufel ist, ein verführerisches Zwitterwesen, mach der Tänzer Hong Ngyen Thai im Tutu auf bocksfüßigen Plateauschuhen deutlich. Dass eine Lady Gaga im Tutu, wenn sie die Sehnsuchtsgelüste junger Leute auf dem Catwalk aufmischt, da nur noch ein schwaches Abbild ist, wird auch deutlich. Überhaupt, es hat den Anschein, dass die Ausflüchte in den Rausch, eben mit Hilfe einer Droge wie Crystal, je gefährlicher und bedrohlicher und tödlicher sie werden, an Sinnlichkeit verlieren.
Heike Hennig lässt ihre engagierten Protagonisten hoppen und poppen; glücklich lässt sie sie nicht werden, eher erbärmlich und auch bemitleidenswert, wenn sie in wilden Wortkaskaden aufzählen, welchem Druck der Anforderungen sie sich nach gründlichen Recherchen bei Leipziger Jugendlichen ausgesetzt sehen. Nach den Aufführungen soll dann immer diskutiert werden. Zur Premiere wohl nicht, da wurde gefeiert, selbstverständlich gänzlich rauschfrei, nehme ich mal an, ich war da schon weg.
Nächster Tag, nächster Ort, Leipziger Opernhaus am Augustusplatz, Ballettpremiere.
Ich gestehe, ich fühlte mich, ohne über nennenswerte Erfahrungen zu verfügen, schon nach wenigen Minuten, zu den ersten Bildern, bei den ersten Klängen, in einen Rausch der Emotionen versetzt. Premiere beim Leipziger Ballett, ein neuer Abend von Mario Schröder zum unvollendeten Requiem von Mozart, dazu Texte und Filmsequenzen von Pasolini. Vielleicht muss ich sagen, dass ich grundsätzlich skeptisch bin, wenn der Tanz der Worte und zusätzlicher, bewegter Bilder bedarf. Zu viele Erinnerungen an bitteren Dilettantismus schwirren mir durch den Kopf, und das bezieht sich nicht nur auf die freie Szene. Hier aber stimmt alles. Pasolinis bittere Lyrik, seine Abschiedsgedanken oder sein Dialog, in dem ein Toter glücklich und lachend einem Lebenden jünglingshaften Trost gibt, sind keine Fremdkörper zwischen den Teilen der Totenmesse für die Lebenden von Mozart.
Zudem hatte ja Pasolini Musik aus Mozarts Requiem in seinem Film „Teorema“ verwendet, und Sequenzen daraus fügt Andreas Auerbach immer wieder in seine vom Licht bestimmten Raumkompositionen für die Choreografie von Mario Schröder ein.
Es beginnt mit einer Szene schwebender Tänzerinnen und Tänzer, eigentlich schon ziemlich himmlisch, wenn der Heilige Paulus nicht irrte, denn vom Kostüm her ist nicht zu unterscheiden, welches Wesen männlich oder weiblich ist. Aber jedem Wesen schlägt die eigene Stunde, zu jedem Wesen gehört ein Metronom, und jedes Zeitmaß ist anders. So habe ich den Klang der Vergänglichkeit noch nie gehört! Und so wie der junge Tänzer Ronan dos Santos Clemente gegen das Maß seiner Zeit in riesigen Kreisrunden ankämpft, habe ich Mozarts widerständige Musik zum „Kyrie“ auch noch nicht erlebt. Dennoch, es wäre unangemessen, von Bebilderungen zu sprechen, denn ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob nicht schon längst in meinem Kopf, auf meiner eigenen Bühne, in meinem Film, in meiner Musik, sich fortsetzt, wozu dieser außergewöhnlich starke Leipziger Ballettabend anregt.
Zurück in Dresden. Hier wird auch getanzt. Aber anregend? Eher aufregend geht der Tanz um das Amt des Intendanten der Staatsoper in eine neue Runde, die beginnt mit einer Verschnaufpause. Erst im Herbst, wenn die Würfel der politischen Mehrheiten und Vorlieben neu gefallen sind, soll wieder eingeladen werden zum Vortanzen. Mal sehen, wer dann alles antanzen wird, und wen die Mitglieder der kompetenten Findungskommission umtanzen werden. Bis der oder die Neue dann ihre ersten Tänze vorführen werden, wird noch einige Zeit vergehen. Vielleicht tanzt dann alles an der Oper in so sicheren Geschäftsvorgaben, dass man sich überlegen wird, ob man denn überhaupt so hoch bezahlte Vortänzer noch braucht. In der Zwischenzeit jedoch geht der Tanz um die Forsythe-Company in eine neue Runde. Der Vertrag für die Company läuft bis 2016. Jetzt soll er, das möchte auch die Oberbürgermeisterin von der CDU, der partielose Kulturbürgermeister mit dem Mandat der Linken und die nach Frankfurter Vorbild inzwischen voll auf Forsythe eingeschworene Fraktion der Grünen, verlängert werden bis 2018. Die gegenteilige Haltung von SPD und FDP, wenn auch unterschiedlich zum Teil begründet, hat sich nicht geändert, im Hinblick auf die geplante Verlängerung schon gar nicht. Der ganze Tanz bekommt nun neuen Aufwind, denn – seit einiger Zeit war es zu ahnen – Forsythe selbst will sich zurückziehen, jedenfalls als Chef der Company und als Chefchoreograf, als Berater möchte er mitreden. Da inzwischen der Spielplan sowieso zum größten Teil aus Reprisen oder Wiederaufnahmen, immer natürlich als neue Einstudierung – klar – besteht, die Zahl der Uraufführungen in Dresden überschaubar blieb, hätte man sich ja gut vorstellen können, dies so auch noch zwei Jahre gewähren zu lassen. Zu bedenken ist aber auch, dass 2017 der Vertrag mit Dieter Jaenicke, dem künstlerischen Leiter des Europäischen Zentrums der Künste, ausläuft und diese Position neu besetzt werden wird. Als neuer Choreograf ist der italienische Tänzer und Choreograf Jacopo Godani im Gespräch, der im Frankfurter Ballett unter Forsythes Leitung Solist war und von dem auch das Semperoper Ballett Arbeiten im Repertoire hat.
Das hatte man inzwischen wohl erkannt: die Company selbst, mit eigenen Arbeiten, mögen sie noch so sehr aus dem Geiste des Meisters kommen, kommt da an ihre Grenzen.
Was aber bewegt die Dresdner Politik, Tatsachen zu schaffen über einen längeren Zeitraum hinaus als nötig? Unabhängig von der unseligen Debatte über Kosten und Nutzen stellt sich natürlich die Frage, warum eine Company der freien Szene nicht auch nach 2016, wenn die institutionelle Förderung ausgelaufen ist, sofern sie die Kraft hat als solche weiter zu bestehen, und das auch unbedingt in Dresden möchte, genauso wie andere ihre Anträge stellen kann? Beim Kulturamt der Stadt, bei der Kulturstiftung des Freistaates, bei den Förderinstitutionen des Bundes, und bei so hohem Maß an internationaler Reputation sicher auch in weltweiten Kooperationsverbünden, Stiftungen, Banken, europäischen Programmen. Na, der Tanz ist noch nicht zu Ende. Das Tanzland Sachsen, die Tanzstadt Dresden, bleibt in Bewegung.