Es gibt diesen Werbefilm über Cameron Carpenters neues Album, über den Bauprozess einer neuen Orgel, „seiner“ eigenen fahrbaren Orgel, mit der er derzeit von Los Angeles über Salzburg bis Trondheim gastiert: ein monumentaler, rabenschwarzer, fünfmanualiger Spieltisch, vierzig respekteinflößende Lautsprecher sind drum herum verteilt. „Larger than life“, „Überlebensgroß“, sagt seine erste Klavierlehrerin in dem Film, wie hypnotisiert klingt sie, und wirkt mit ihrer gestrengen Brille ein bisschen wie einem alten Horrorfilm entsprungen. Meint sie das Instrument – oder ihren ehemaligen Schüler, der, 1981 geboren, an der renommierten Juilliard School in New York ausgebildet, inzwischen die Podien der Welt im Sturm nimmt?
In den Konzerten von Cameron Carpenter geht es nämlich längst nicht mehr nur um die Musik, die er darbietet, um die herrlich verrückten, augenzwinkernden bis ohnmachtinduzierenden Arrangements von Bach bis Skrjabin, die der Organist virtuos und mit dem richtigen Sinn für den Einsatz aller nur vorstellbaren akustischen Mittel einer elektronischen Orgel bedient, vom wummernden 32-Fuß-Sub-Bass einer großen Kirchenorgel über Cymbal-, Trommel- und Paukenklänge bis zum Glockenspielklimbimm einer Jahrmarktorgel. Nein, es geht um die kunstvolle Selbstinszenierung des Virtuosen, seiner Kleidung, seiner Frisur, seinen Moderationen etc. zu einem einzigartigen, atemberaubenden Gesamtkunstwerk, angesiedelt irgendwo zwischen Paganini, Casanova und Sektenprediger, zwischen „Schlafes Bruder“, Nigel Kennedy und Yves Saint Laurent.
Man könnte das als lächerlich abtun oder als aufgesetzt, als Geschmacksverirrung, als Phänomen einer oberflächlichen Star- und Entertainmentkultur. Aber das trifft Cameron Carpenter nicht, denn im Gegensatz zu all den flachbrüstigen Garretts und Co. hat er wirklich etwas drauf, er kreiert paradiesvogelartige, dennoch immer stilsichere Arrangements von Bachs Cellosuiten bis „Sisters of Mercy“, aber auch himmelschreiend geniale Eigenkompositionen. Dieser Organist ist auf einer Mission. Der in der Pfingsthitze dampfende, völlig ausverkaufte Alte Schlachthof war nur eine Zwischenstation auf seiner manisch zelebrierten Welt- und Zeitreise. Was er spielte? Ein französisches Weihnachtslied. Etwas aus Tschaikowskis „Pathétique“. Bernsteins „Candide“-Ouvertüre. Seine eigene „Musik für einen imaginären Film“. Ist doch auch egal. Vielleicht ist das Einzige, was musikalisch vom 21. Jahrhundert am Ende übrigbleibt, dieser Mann.
Eine Textfassung des Artikels ist am 10. Juni in der Sächsischen Zeitung erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.