Dresden gibt sich so gern aristokratisch und glaubt sogar heute noch an den lieben Adel, dem – neben einer Menge Bombastik – auch so viel Untergang zu verdanken ist. Dass einer der am meisten glorifizierten Despoten sich einst die polnische Krone erschlich, ist zwar bekannt, spielt aber kaum eine Rolle. Dresdens Blick geht, so er aus der Nabelschau einmal aufgeschreckt wird, gern gegen Westen. Aus Nachholebedarf? Die öffentliche Wahrnehmung des polnischen Nachbarn aber geht gegen Null. Dabei hätten just die beiden seit 1959 in einer Städtepartnerschaft verbundenen Kulturmetropolen Dresden und Wroclaw viel mehr gegenseitige Aufmerksamkeit verdient. Die niederschlesische Metropole ist eine Stadt im Wandel und orientiert sich unverkennbar gen Westen. Bis 2016 werden noch zahlreiche Baustellen zu beackern sein, dann ist die und mit ihren gut 630.000 Einwohnern viertgrößte Stadt Polens europäische Kulturhauptstadt (neben dem spanischen San Sebastian).
Bis auf die Sprechgrenzen existiert heute keine Hürde mehr zwischen Sachsen und Schlesien, dank der steuerlich heftig geförderten Autobahnen zur Fußball-EM 2012 beträgt die Reisezeit zwischen den knapp 300 Kilometer voneinander entfernten Schwestern nur gut zwei Stunden, Tante Bahn geht das gemächlicher an und braucht reichlich drei Stunden für die direkte Verbindung, bedient die aber nur dreimal pro Tag.
Da ist also noch mächtig viel Luft nach oben drin, schließlich lohnt ein Besuch der niederschlesischen Hauptstadt gerade jetzt im Sommer sehr. Eine pulsierende Stadt mit jeder Menge Geschichte, einem malerischen Zentrum, einem Dutzend Inseln und Hunderten Brücken. Wroclaw deswegen als polnisches Venedig zu bezeichnen ist zwar üblich, allerdings ebenso albern wie die auf Dresden gemünzte Beleidigung von Florenz. Verbindungen zwischen beiden Städten gibt es quasi ohne Ende. Und nicht immer waren sie so partnerschaftlich wie die heute zumeist mit Stiefmütterchen garnierte Städtefreundschaft. Im bislang letzten europäischen Weltkrieg wurde das damalige Breslau ähnlich geschunden wie Dresden; mit dem Unterschied freilich, dass es dort die Deutschen höchstselbst waren, die hier das Bombendebakel nur ausgelöst haben.
Doch bereits im 19. Jahrhundert tobte das napoleonische Schlachten ungeachtet menschlichen Leids oder gar kulturhistorischer Rücksichtnahme. Dass die sogenannten Befreiungskriege dem 1813 endlich ein Ende bereiteten, wurde exakt einhundert Jahre danach in Leipzig mit dem popösen Koloss des Völkerschlachtdenkmals furchteinflößend in Stein gehauen, in Breslau hingegen errichtete man die sogleich mit dem treffenden Namen versehene Jahrhunderthalle. Seit 2006 zählt sie zum UNESCO-Weltkulturerbe und dient heute aus Austragungsort von Messen, Kongressen und Opern-Events.
Gigantomanien in der einstigen Halle des Volkes
Just in diesem Bau wurde nun Giuseppe Verdis »Macbeth« ein Megaopernevent.als diesjährige „Megaopernproduktion“ der Oper Wroclaw aufgeführt. Diese Gigantomanien (im Original: „Megawidowisko Operowe“) haben Tradition in der Stadt, seit das Oder-Hochwasser von 1997 eine umfassende Renovierung des 1841 eröffneten Opernhauses von Carl Ferdinand Langhans erforderlich machten. Während dieser Bauphase musste der Spielbetrieb an Ausweichstätten erfolgen, für große Produktionen wie Wagners »Ring«, Mussorgskis »Boris Godunow«, Borodins »Fürst Igor« sowie Verdis »Maskenball« und Bizets »Perlenfischer« fand er in der zwischenzeitlich als Halle des Volkes apostrophierten Jahrhunderthalle Unterschlupf.
Nun also ein weiterer Verdi, inszeniert vom Wahl-Wiener Bruno Berger-Gorski und – zumindest in der Premiere – mit reichlich italienischer Stimmkunst versehen. Mehrere Partien dieser nur sechsmal angesetzten Mega-Produktion sind doppelt, manche dreifach und der Titelheld gar vierfach besetzt. Da wird also kein Aufwand gescheut, um in jedweder Hinwicht wirklich „mega“ zu sein. Das Stadtbild ist mit »Makbet« plakatiert, der Hauptsponor (ein Energieunternehmen) und zahlreiche Partnerunternehmen haben da wohl tat- und zahlungskräftig mitgeholfen. Als Gegenleistung gibt es Werbeauftritte nicht nur im Programmheft, sondern zu Vorstellungsbeginn und selbst in der Pause unübersehbar auf gewaltigen Bildschirmen in der noch immer grandiosen Kuppel.
Hexen, Hund und Pferde auf der Bühne
Da kein Opernhaus der Welt solch gigantische Ausmaße bietet, kann die Ausstattung protzen und das Bühnenbild eine Szenerie mit überdimensionalen Details schaffen. Weil aber die Jahrhunderthalle kein Theaterbau mit der entsprechenden Technik ist, muss von Anfang bis Ende der Wald von Birnam die Szene beherrschen, turmartig stehen drei riesige Hexen darin, die bei Bedarf auch bedrohlich agieren und – da sie selbst zum Schlussapplaus die krakengroßen Hände spreizen – wohl auch belustigen. Die Auftritte sind ob der Dimensionen geradezu sportlich, hier hat jeder Darsteller Distanzen zurückzulegen, die ihn zur Olympiade befähigen. Zwar werden, weil es zur königlichen Historie gut passt, zwei bildschöne Pferde auf die ersten Bühnenmeter geführt, doch zum Einsatz kommen sie sowenig wie der edle Hund von Lady Macbeth, der auch nur ein Accessoire ihrer Abgehobenheit bleiben darf. Für Solisten, Chor, Statisten und Ballett ist also viel Laufen angesagt. Szenisch bedeutsame Momente bekommen eine Bühne ins Bild gestellt, darauf gibt's dann Kammerspiel, der Rest des riesigen Raumes bleibt Staffage. Als würde man der Gigantomanie nicht trauen, werden Ausschnitte dieser Landschaft auf zwei große Bildschirme übertragen, die nicht auch die polnischen Untertitel der italienisch gesungenen Oper einblenden.
Gemeinsam mit seinen Ausstattern Pawel Dobrzycki (Bühne, Licht) und Malgorzata Sloniowska (Kostüme) hat der in einer deutsch-polnischen Familie aufgewachsene Regisseur Bruno Berger-Gorski ein fulminantes Groß-Theater geschaffen, das insgesamt zwar auf biedere Fantasy und schiere Bombastik setzt, hier und da aber Raum für feine Psychologie und kluge Interpretation bietet. Insbesondere der rapide moralische Verfallsprozess von Macbeth sowie die bis in den Wahn getriebene Machtgier der Lady Macbeth sind überzeugend dargestellt. Aus Unmengen an Lemuren, Gerippen und Totenschädeln, die allesamt für düsterste Stimmung sorgen, ragen direkte Personenbezüge immer mal wieder heraus. Eingebettet scheint der verhexte Konflikt um Machtfolge, Vertrauensverlust und tödlichen Argwohn in ein archaisches Bürgerkriegs- und Flüchtlingsdrama, bei dem die Geschundenen verdammt sind, ihren Part widerspruchslos hinzunehmen. Das erinnert an tatsächliche Dramen aus heutiger Welt, in der bedrängte und entrechtete Menschenmassen für Sonntagsreden taugen, von den angeblichen Machthabern aber würdeloser als Schlachtvieh behandelt werden. In so manchem maskierten Kämpfer der Oper meint man die hirn- und gefühllosen Muskelpakete von Sicherheitsfirmen, Freischärlern oder selbsternannten Revolutionsgarden zu erkennen. Dieser Realitätsbezug wirkte grausamer als der behauptete Kindermord von Birnam.
Gespielt wird »Macbeth« mit Ballett (Choreografie Bozena Klimczak), was in den düsteren Zauber noch einmal eine spritzige Orgie aus überall tödlichem Lauern, Gefahren und Misstrauen aufschäumen lässt. Vor allem aber quillt Verdis unsterbliche Emotionalität aus dem Orchester der Oper Wroclaw, das Ewa Michnik, die Intendantin und musikalische Chefin des Hauses, geschickt auf die komplizierten Bedingungen der Halle eingestimmt hat. Ein Sound via Verstärker, gemixt mit per Mikroports abgenommenen Sängerstimmen, das klingt – zumal im akustischen Ringen mit der laut dröhnenden Klimaanlage – gewöhnungsbedürftig. Hat man sich darauf eingelassen und den technischen Grundton halbwegs verdrängt, überwiegt ein dramatisches Blühen aus sattem Streicherklang, gut gespitztem Holz und bestgeputztem Blech. Eine Herausforderung für sich dürfte es sein, die Ensembles aufgrund der räumlichen Dimensionen zusammenzuhalten. Der erst vor kurzem mit dem Leipziger Richard-Wagner-Preis geehrten Künstler-Intendantin gelang auch das sehr überzeugend.
Vor allem aber ist die Premiere durch ihr starkes Solistenensemble und den von Anna Grabowska-Borys zu Höchstleistungen angetriebenen Chor gut angenommen worden. Mit Lucio Gallo stand ein so spielfreudiger wie stimmstarker Macbeth zur Verfügung, der sich in jeder Hinsicht zu entwickeln vermochte. Nach anfänglichen Intonationsschwierigkeiten in der Höhe wuchs der Bariton zu heldischer Strahlkraft und zeichnete nachvollziehbar das Bild eines fallenden Despoten. Ihm zur Seite Maria Pia Piscitelli als Lady Macbeth, die ihren Sopran schön gestaltete und auch bissig agieren konnte, ohne damit lediglich als durchtriebene Böse zu erscheinen; sie trug sogar zunehmend auch Opferzüge. Mit Makarij Pihura als Banquo war ein Getreuer zu Diensten, unangreifbar sowohl spielerisch als auch sanglich – nur dem Komplott am Hofe widerstand der ukrainische Bass letztlich nicht. Ebenfalls glänzend Stefano La Colla als Macduff, ein Bilderbuchtenor mit Freude am Spiel wie an der eigenen Stimme. Der Italiener legte die Latte damit sehr hoch, ohne damit jedoch Lukasz Gaj als ebenfalls achtbaren Malcolm in den Schatten zu stellen.
Die künstlerische Qualität dieses Mega-Events war ohne Fehl und Tadel. Eine Neudeutung von Verdis Meisterstück darf man von solch einem Sommerereignis freilich nicht erwarten.
Einen schönen Sommer wünscht, bis nächsten Freitag –
Michael Ernst