Ich dachte, ich hätte bei meinem nunmehr neunzehnjährigen Enkel vor ein paar Jahren alle Chancen in Sachen Oper verpatzt. Ich hatte ihn überredet, mit mir in die Staatsoperette zu gehen, »Hänsel und Gretel« wurde gegeben, und nach der Vorstellung hat er es mir gegeben. Wenn ich so etwas gut finden würde, dann müsste ich das mit meinen Geschmackskriterien vereinbaren, er finde es einfach nur albern, wenn erwachsene Sänger sich kindisch benehmen. Ich hatte keine Gegenargumente. Großes Erstaunen jetzt, als der inzwischen volljährige Enkel, zu dem ich aufsehen muss, darum bat, mit mir in die Oper zu gehen, in die Semperoper. Begründung, es gebe dort eine Sängerin, die müsste ich kennen, die solle auch gut sein, und diese wiederum habe einen Sohn, den kenne er gut, und dieser sei gut in Sachen Hiphop-Rhymes, die er im eigenen Tonstudio produziere. Also gut, der junge Hiphopper heißt Kristopher Lawrence, seine Mutter, das war dann für mich nicht schwer zu erraten, ist die Mezzosopranistin Tichina Vaughn, und die kenne ich natürlich, schon aus Aufführungen in Stuttgart, wo ich sie vor ihrem Wechsel nach Dresden mehrfach erlebt hatte. Ihr zwanzigjähriger Sohn Kristopher, aufgewachsen in Deutschland und nach eigener Aussage ein "Denglisch Kid", worauf sich auch etliche Themen seiner Songs beziehen, hat seine Fans inzwischen hier, die mögen seinen melodischen Rap und dazu kommt, dass er auch beim American Football eine gute Figur macht. Ich muss gestehen, weder die Sportart, noch die Musik, die mein Enkel offensichtlich mag, hatten mich bislang interessiert. Was den Football angeht, wird es wohl auch so bleiben, aber in Sachen Musik habe ich etliche Vorurteile abgelegt, seit ich regelmäßig lese, was mein Enkel in seinen Rezensionen auf der eigenen Blogseite schreibt, und die Videos sehe ich mir auch an. Mal reinschauen? Bitte, die Seite heißt „iluvrap“. Ist das eigentlich Schleichwerbung?
Zurück zu unseren Opernbesuchen, die waren ein Erfolg. Weil es eben um Tichina Vaughn ging. Zunächst »Schwanda, der Dudelsackpfeifer«. Ich war gespannt, wie wird das gehen? Es ging gut. Die Opulenz der Inszenierung, die Frische der Musik, das hat meinem Rap-Fan-Enkel gut gefallen. Jetzt die Steigerung, »Elektra«, mit dem Rollendebüt der Tichina Vaughn als Klytämnestra. Ich hatte versprochen: heute erleben wir drei mordsmäßig starke Frauen! Das konnte ich einlösen, beziehungsweise haben die Sängerinnen das vollbracht. Denn wie zur Premiere im Januar dieses Jahres stand mit Evelyn Herlitzius eine Sängerin und Darstellerin für die Titelpartie auf der Bühne der Semperoper, die in ihrer Art derzeit einzig sein dürfte. Mit existenzieller Schonungslosigkeit schleudert sie ihre schmerzenden Töne aus der Erfahrung tiefer Verwundungen heraus. Dabei fehlt es nicht an den Momenten der Zerbrechlichkeit und jenen Tönen, die ihre abgrundtiefe Einsamkeit zum Klingen bringen. Hinzu kommt die körperliche Präsenz einer außergewöhnlichen Sängerdarstellerin, die Erfahrungen als Tänzerin einbringen kann.
Tichina Vaughn aus dem Dresdner Ensemble, neu als Klytämnestra, war die Entdeckung des Abends für mich, und da stimmte mir mein Enkel auch zu, das macht sie toll. Wie diese Sängerin zum Ausdruck bringen kann, welch schreckliche Träume sie verfolgen, ist zutiefst erschütternd. Sie hat die Töne für die Tragik einer schuldbelasteten Königin, und ihre Szenen der verzweifelten Einsamkeit machen sie zu einer tragischen Partnerin der Elektra. Na ja, das muss ja auch mal gesagt werden, sie singt auch alles selber, im Gegensatz zu ihrer Kollegin zur Premiere damals, die sich bei den Todesschreien von einer Kollegien aus dem Chor vertreten ließ!
Mit starken Tönen konnte auch Manuela Uhl, erstmals als Chrysothemis in Dresden, aufwarten. Ein wenig mag man hier lyrische Zartheit vermissen, jenen für Srauss so typischen Silberklang in den Höhen, mit denen er das schuldlose Unglück dieser so ganz anders gearteten Schwester Elektras ausstattet. Keine Frage aber, ein solches Trio traumatisierter Menschen ist bei aller Tragik um die es im Stück geht, ein Glücksfall für das Publikum. Große Momente für Markus Marquardt in der Partie des Bruders Orest. Er weiß mit glaubwürdigem Gesang überzeugend zu gestalten, wie er unter den Erwartungen der rachsüchtigen Schwester zerbrechen muss. Und im Weiteren, die Sängerinn und Sänger in den kleineren, aber ganz und gar nicht anspruchslosen Partien, stellen die Kraft des Dresdner Ensembles in helles Licht. Natürlich ist dies auch ein Abend der Sächsischen Staatskapelle, diese 1909 hier uraufgeführte Oper ist eines ihrer Stücke, und das hört man erneut in dieser Aufführung. Dazu steht mit Peter Schneider ein erfahrener und sensibler Dirigent am Pult. Die hochdramatischen Momente fehlen nicht, aber auch die zarteren Passagen lässt er aufklingen. Den Sängerinnen und Sängern bereitet sein so besonnenes Dirigat ein sicheres Fundament, dennoch fehlt es insgesamt nicht an der antiken Wucht einer Tragödie, deren Strudel aus Gewalt und Rache am Ende alle in die Tiefe reißt. Das Publikum im ausverkauften Haus ist hingerissen und begeistert.
Und der Enkelsohn? Na ja, die Musik, das sei schon wirklich großes Kino, meinte er. Die Inszenierung und das Bühnenbild dagegen ein bisschen langweilig, kein Vergleich mit dem »Schwanda«. Aber die Lust an der Oper, die ist noch ein bisschen größer geworden, wir können das in der nächsten Saison gerne fortsetzen. So, jetzt muss ich es nur noch schaffen – vielleicht auch in der neuen Saison – mich mal einladen zu lassen, wenn die Rapper los machen. Vielleicht lasse ich mich dann auch infizieren? Ganz großes Kino ist das ja auch, was da abgeht.