Ein Mann wie Wim Wenders müsste sich jetzt eigentlich freuen. Hat ihm schon mal wer eine CD der Dresdner Band »The Gentle Lurch« zugesteckt? Fast all seine Bilder sind da schon drin. Er müsste diese Musik nur drunterlegen, sich einen guten Plot dazu einfallen lassen und die Kamera draufhalten. So viel grau-schwarze Stimmung wie in seinen Filmen bringt auch der spezielle Sound dieses immer mal neu zusammengewürfelten Konsortiums zustande. Seit glücklichen sieben Jahren sind sie auf dem Plattenmarkt zugange, soeben haben sie die dritte CD vorgelegt. Ende Oktober gibt es das Release-Konzert im Societaetstheater.
Nach dem Debütalbum »From Around a Fire« (2007) und der zweiten Scheibe »The Beat of the Heart is the Beat of the Boss« (2009, beide beim verblichenen Label Schinderwies Records erschienen) haben die an amerikanischem Folk-Pop geschulten Musikanten nun beim jungen Dresdner Unternehmen K&F Records ihr drittes Machwerk vorgelegt. Das Cover zeigt desillusionierende Details aus ostdeutschen Plattenbauvierteln. In den USA (und nicht nur dort) gelten solche Bilder mitunter als Kult, der optische Eindruck vom äußerlich erst einmal wortkargen »Workingman's Lurch« könnte also absichtsvoll irreführend sein.
Dabei geht es tatsächlich um Verfall, wer sich noch traut, von Klassengesellschaft zu reden, sieht die Arbeiterklasse im Absturz. Das schmale Booklet bestätigt dies nur, inhaltlich wie illusorisch, denn es beinhaltet lediglich die Texte der an sich bestens verständlich gesungenen elf Songs. Nicht mal ein Dutzend!
Und doch scheint man beim Hören und zwangsläufigen Wiederhören dieser CD in reiche Singer-Songwriter-Unendlichkeiten entführt zu werden. Diese Tristesse, diese verhaltenen Tempi, die akustischen Grätschen, das Schlürfen an Griffbrettern und Stimmbändern, die stampfenden Drums – es mutet alles so authentisch original an, dass man den Ursprung dieser torkelnden Arbeiterschaft in einer ganz anderen Welt vermutet.
Über Vorbilder darf gefachsimpelt werden. Wer will, mag Leonard Cohen oder Kurt Wagner heraushören, wenn Lars Hiller seine Sprechgesänge über die Gitarrenriffs legt. Im Wechsel mit Cornelia Mothes und Frank Heim sowie auf einigem Background schreitet man da auf stolzen Akkorden einher, deren Simplizität so sperrig aufgebrochen wird, dass es eiskalt den Rücken hinunter rinnt. Geradezu bizarre Einsätze von Klarinette und Streichern, letztere auch mal gezupft zum Klavier perlend, gehen direkt unter die Haut.
Etwas mehr, nein, anderen Drive legt die vielseitige, weil Klavier, Klarinette und E-Orgel spielende Sängerin an den Tag. Frech, treibend, und doch stets eine Spur träumerisch zieht sie in ihren Bann. Bis die nächste Nummer den nächsten Stilbruch mit sich bringt, was freilich gewollt ist und die musikalische Phalanx von »The Gentle Lurch« unter Beweis stellt. Optimistisch klingt all dieser Abgesang nicht, so ergreifend (weil wahrhaftig) er auch ist. Jetzt sollte ganz rasch die Story zum Film zur Musik geschrieben werden! Denn »Workingman's Lurch« ist in der Tat nicht erbaulich, aber höchst weidlich. Die Stahlsaiten sind wie Hochspannungsleitungen quer durch den Wilden Westen und Osten gespannt, pickender Country-Style darauf, beinahe märchenhafte Brüche in Banjo und Bass – und dann treibt es doch wieder wehmutsvoll weiter. Der amerikanische Freund hätte seine wahre Freude daran. Wir allerdings auch!
The Gentle Lurch: »Workingman's Lurch«, K&F Records 028
Release-Konzert am 21.10.2014 im Societaetstheater