Was in deutschen Landen einmal Residenzstadt war, will scheinbar immer Residenzstadt bleiben. Auf jeden Fall gibt es sich traditionsbewusst. Manchmal bis an die Grenze des Lächerlichen, oftmals bis mindestens zur Kleinlichkeit. Dabei hat die Ex(!)-Residenzstadt Dresden ja jede Menge Tradition zu bieten, die es zu bewahren, zu fördern und auszubauen gilt. Wie schön, wenn sie sich damit in der ebenfalls Ex(!)-Residenzstadt München präsentiert. (Und um wie viel noch schöner wäre ein waschechter Austausch?!) Von der Elbe an die Isar wechselte beispielsweise – vorübergehend zumindest – „Geist und Glanz der Dresdner Gemäldegalerie“. Unter dem publikumsheischenden Titel »Rembrandt – Tizian – Belotto« sind derzeit 99 Meisterwerke aus dem Zwinger in der renommierten Münchner Kunsthalle auf der Theatinerstraße zu bewundern.
In einen klangvollen Dialog zur bildenden Kunst trat diese Woche die Sächsische Staatskapelle Dresden, die zum Auftakt der Saison sowie ihrer aktuellen Europa-Tournee (mit freilich ausschließlich deutschen Zielen) die Philharmonie im Münchner Gasteig bespielte. Und füllte, bis beinahe auf den allerletzten Platz! Bei Kartenpreisen von bis zu 145 Euro und einem Auditorium, das insgesamt 2.400 Menschen beherbergen kann, ist dies sowohl als Honneur an den einstigen Philharmoniker-GMD und heutigen Chefdirigenten der Staatskapelle Christian Thielemann als auch ans Dresdner Orchester zu sehen.
Geboten wurde im Gegensatz zu den weiteren Auftrittsorten Berlin, Frankfurt am Main, Köln und Dortmund nicht das Programm des 1. Dresdner Symphoniekonzerts, in dem vor Anton Bruckners 9. Sinfonie das 2. Violinkonzert „In tempus praesens“ von Sofia Gubaidulina erklang, sondern eine vermeintlich populärere, auf Ludwig van Beethoven ausgerichtete Variante. Dessen Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur interpretierte der 23jährige Pianist Daniil Trifonov. Schmächtiger noch als der stets hager dargestellte Paganini setzte er sich an den Flügel, hauchte seine feingliedrigen Finger über die Tasten und begeisterte das Publikum ebenso wie die Kapelle mit seiner faszinierend virtuosen Leichtigkeit. Feuerkopf wird er genannt, auch Tastenfeuerkopf; das alles trifft es und trifft es doch nicht. Der junge Mann ist ein Genie, er kann mit diebischer Freude durch den Solopart und über die Klaviatur tänzeln, dass selbst konzentrierteste Augen-Blicke kaum mehr hinterherkommen. Bleibt der Verlass aufs Gehör, aber auch da eilt der 1991 in Nischni Nowgorod im Sternzeichen der nicht zu greifenden Fische geborene Künstler allen menschlichen Gewohnheiten gerne so schlüpfrig wie kunstvoll davon.
Ohne sich je zu verzetteln – und genau darin liegt die besondere Kunst dieses russischen Künstlers. Im Dialog mit der Kapelle war nicht jedes Stückchen so homogen, wie es perlte. Aber erkennbar auch fürs breitere und fernere Publikum war schliesslich doch, dass hier kein feuriger Tastenguru zu Werke ging, der übergriffig durch einen anspruchsvollen Solopart zu hüpfen versteht. Nein, hier wurde dem Publikum eine ebenso ernsthafte wie zeitgemäße Auseinandersetzung mit Beethovens Opus 15 serviert. Die darin enthaltene Liedhaftigkeit, selbst die lyrischen Momente ergänzten sich trefflich mit Trifonovs Virtuosität, die auch im tänzerischen Schlusssatz nie vordergründig geriet. Federleicht bewegte sich der junge Russe über die Klaviatur und erntete daraufhin einen Sturm der Sympathie, den er mit seinen solistischen Zugaben von Liszt und Rachmaninow eher noch anfeuerte denn stillte.
Nach diesem überzeugenden Zwiegespräch von Solist und Orchester, das in einem Jubelchoral mündete, weil die Beziehung zwischen Beethovens Musik und dieser Interpretation so überzeugend gelang, hatte es Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 in d-Moll arg schwer, einen ähnlich ergreifenden Dialog anzustiften. Zumal Christian Thielemann mit just dieser Komposition vor reichlich fünf Jahren seinen Krach mit der Stadt München ausgetragen hatte, den ihm dort heute aber niemand mehr nachzutragen scheint.
Das 1887 begonnene und nie vollendete Werk darf als Bruckners Bekenntnisruf mit dem Jenseitigen verstanden werden, an das der autoritätshörige Tonsetzer noch sehr innig glaubte. Die Vielfalt der Binnenthemen, nicht selten je für sich in den Raum gestanzt, haben Thielemann und Kapelle geradezu sachwalterisch ineinandergewoben, ohne einzelne Charakteristika oder gar Höhepunkte zu verschleifen. Als wahre Andacht zelebrierten die Dresdner eine bildhafte und farbenreiche Umsetzung dieser klangvollen Weihestunde, indem sie ein weiteres Mal deutlich machten: hier ist ein Orchester am Werk, das durchweg aus bestens aufeinander eingespielten Koryphäen besteht. Ob es die samtigen Streicherklänge sind, die ebensogut als Teppich taugen wie sie mit feinster Melodik betören, ob es die Holzbläser mit ihren herausragenden Solisten und dem superben Gemeinklang oder (mit klitzkleinen Abstrichen) die Koalitionäre vom Blech sind, denen Brachialromantik ebenso liegt wie Fanfarensalut – hier greift eins ins andere und kann sich die Gesamtheit auf das Vermögen des Individuums verlassen. Und umgekehrt. Nicht zu vergessen die Wirkmacht an den Schlagzeugen, die – gerade bei Bruckner – nicht umhin kann, Kraft mit Feingefühl bestens zu koppeln.
Die Reise geht weiter. Nach der Feierstunde in München steht die Rundreise durch weitere Musikmetropolen an. Bruckner und Gubaidulina gehen in ihrem quasireligiösen Schaffen noch einen ganz besonderen Dialog ein. Am 11. September landet die Staatskapelle wieder in Dresden. Wenige Tage danach starten zahlreiche Mitglieder des Orchesters gen Sächsische Schweiz, um die zum fünften Mal stattfindenden Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch zu unterstützen. Auch dort wird Sofia Gubaidulina mit dabei sein, sowohl in Persona als auch mit einem neuen Werk. Der Dialog mit ihr findet unmittelbar vor den Toren Dresdens statt.