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Grenzbereiche der Kunst – und des Lebens

Uwe-ScholzIch wuchs hinter dem eisernen Vorhang im Roten Finow-Tal auf. Ich lebte auf der östlichen Seite von Berlin hinter der Mauer. Ich zog in ein Dorf bei Eisenhüttenstadt in der Oderniederung und von dort nach Dresden in das Tal der Ahnungslosen. Hinterm Mond habe ich nie gelebt. Dass für den Tanz, für die Musik, für menschliche Sympathien weder eiserne Vorhänge noch Mauern oder tiefe Täler Hindernisse bedeuten könnten, war mir eigentlich immer klar.

So wusste ich auch immer schon viel über das Theater, die Oper, die Kunst, vor allem über den Tanz und das Ballett, im „Westen“. Ich hatte das Stuttgarter Ballett erlebt, 1967 in Dresden, mit seinem Welthit, „Romeo und Julia“ in der Choreografie von John Cranko, später, in Leipzig, Maurice Béjart mit seinem Ballet du XXe siècle aus Brüssel erlebt, seine bahnbrechende Choreografie „Le Sacre du Printemps“. Ich war 1986 dabei, als Pina Bausch persönlich auf der Bühne des Großen Hauses in Dresden in „Café Müller“ zu erleben war und nach ihrer Version des „Frühlingsopfers“ die Dresdner vor Begeisterung wie wild tobten. John Neumeier gastierte mit seinem Hamburger Ballett im Großen Haus und später in der Semperoper, bei immer noch geschlossenem eisernem Vorhang, tanzte er selbst die Rolle des Jesus in seiner choreografierten „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach beim Gastspiel in der Berliner Staatsoper unter den Linden.

Ich wusste fortan also, nach dem tänzerischen Urerlebnis von 1967, in Dresden, immer viel über das Stuttgarter Ballett, über die jungen, noch von Cranko selbst oder später dann von Marcia Haydée geförderten choreografischen Talente, die von dort aus aufbrachen: nach Frankfurt, wie Forsythe, nach Hamburg, wie Neumeier oder nach Zürich, wie Uwe Scholz. 1985 war er mit 26 Jahren der bislang jüngste Chef einer weltweit führenden Ballett-Kompanie.

Ich hatte aber auch mitbekommen, wie er hier fast zerbrach, wie er mit Anspruch, Druck, Erwartungen und strenger Selbstkritik schon damals in gefährliche Grenzbereiche der Kunst und des Lebens vordrang.
Er ist immer, bis zu seinem Tod, heute vor zehn Jahren, in Grenzbereiche vorgedrungen. Diese Grenzbereiche konnten künstlerisch so gegensätzlich sein wie die zerbrechliche und zugleich provokante Intimität einer so autobiografischen und stark auf Leipzig bezogenen Arbeit mit der Solofassung „Le Sacre du Printemps“ von 2003 für Giovanni di Palma oder fast schon verdächtig in für Scholz ungewohnter, überschäumender Freunde und Unbeschwertheit „Die 1000 Grüße“, 1986 für das Ballett in Zürich kreiert, mehrfach wieder aufgenommen und neu einstudiert, mit dem Ballett der Deutschen Oper am Rhein, in Saragossa, und in Leipzig, am 1. Oktober 2000.
Was das Leben anging, trieb es ihn immer wieder in Grenzbereiche medikamentöser Selbstzerstörung oder schmerzhafter Einsamkeit. Also wusste ich ganz gut, wer der Choreograf Uwe Scholz war, als er 1991 die Leitung des Balletts an der Leipziger Oper übernahm. Ich wollte unbedingt dabei sein, als in Leipzig ein neues Kapitel der Ballettgeschichte begann.

Die erste Arbeit von Uwe Scholz, die ich in Leipzig sah, war „Pax questuosa“, 1992 zur Musik von Udo Zimmermann kreiert. Im letzten Jahr habe ich diese Jahrhundertschöpfung noch einmal, am gleichen Ort, gesehen.
Die Klage, das Erschrecken, die Visionen: nichts davon hat sich erledigt! Wie ein Zeichen der Erkenntnis zum Gesamtwerk von Uwe Scholz empfinde ich jetzt das Bild zu Beginn. Der berühmte Schrei, die Lithografie von Edward Munch, dazu Zimmermanns Streichersatz von großer Intensität: man muss hinhören, man muss hinsehen. Die getanzten Schreckensschreie eines Künstlers wie Uwe Scholz sind längst nicht verklungen.
Ich habe dann in der Folge viele höchst unterschiedliche Arbeiten von Uwe Scholz gesehen, vor allem in Leipzig, aber immer wieder auch in Dresden, wo ich mich an sein großes Handlungsballett „Rot und Schwarz“ nach Stendhal zu Musik von Hector Berlioz, gerne erinnere. Ebenso nachhaltig war die Einstudierung seiner Choreografie zu Joseph Hydns Oratorium „Die Schöpfung“, die in einer Neufassung im Dezember 2001 mit dem Ballett in Dresden heraus kam. Mit dieser Kreation hatte er seine Zürcher Zeit begonnen, und er hat damit wohl nicht nur der Tanzwelt ein kostbares Geschenk gemacht. Vieles von dem, was die Unverwechselbarkeit von Uwe Scholz ausmachen wird, ist hier zu sehen, die Liebe zu geometrischen Formen, und die so wunderbare Art Tänzerinnen wie kostbare, zerbrechliche Flugwesen von Tänzern erhoben, regelrecht durch den Raum schweben zu lassen. Irgendwann wurde der Begriff „Seelenvögel“ in diesem Zusammenhang gebraucht. Treffender geht es nicht.
Ich habe mich also immer gern mit seinen Seelenvögeln forttragen lassen. Ich habe mich mit ihm an den symmetrischen Visionen klassischer Vollkommenheit in einer alles andere als vollkommenen Welt für Momente dem Druck des Gegenwärtigen entzogen.

Und ich habe mich der Spannung einer Choreografie wie „Große Messe“, 1998, in Leipzig ausgesetzt.  „Die Kathedrale von Leipzig“ sagte ein Kritiker. Für mich faszinierend der Schluss dieses großen Abends mit der unvollendeten Messe Mozarts und den musikalischen Brüchen des 20. Jahrhunderts von Thomas Jahn, György Kurtá und Arvo Pärt. Ein „Uhrwerk der Schwermut“, aufwühlend bei der Wiederbegegnung im Frühjahr 2011 in Leipzig, wie gesagt am Ende, ein so nur im Tanz zu vermittelndes Maß der Demut, wenn dieser so weit dimensionierte Abend mit dem so schlicht gesungenen „Agnus Dei“ zu Ende geht, die Tänzerinnen und Tänzer Kostüme und Masken ablegen, den Schweiß von den Gesichtern wischen und zuhören. Schweigen und zuhören. Das tun sie mit uns im Zuschauerraum gemeinsam. Viel mehr dürfte im Theater zur Erlösung vom Bösen nicht möglich sein.

 

Bis ich endlich die zeitlich kleine, inhaltlich groß dimensionierte Arbeit „Dans la Marche“ sehen konnte, was mir zur Uraufführung 1998 in Leipzig nicht gelungen war, musste ich bis bis zum Beginn dieses Jahres warten und nach Koblenz fahren. Was ich erlebte, war Poesie als schweigende, verzweifelte Provokation des Tanzes, stille Totenklage: Auschwitz, Bergen-Belsen, Majdanek, Treblinka….. Was der Künstler Uwe Scholz da so alles mit sich herumschleppte, was ihn zerrissen hat, das konnte ein schmaler Körper nicht lange aushalten, jedenfalls nicht länger als 45 Jahre.  „Wie ein zarter, empfindsamer junger Vogel mit großen, oft traurigen Augen“, so beschreibt ihn die einstige Stuttgarter Primaballerina Birgit Keil, für die er gemeinsam mit Marcia Haydée das Ballett „Stabat Mater“ zur Musik von Pergolesi kreierte. Dieser Beobachtung ist nichts hinzuzufügen. So wirkte er, als er sich, schon von Krankheit und Verfall gezeichnet, am 23. November 2003 in Dresden zeigte, nach der Uraufführung seiner Solochoreografie für Vladimir Derevianko, „Fragmente Winterreise“ zu Liedern aus Schuberts Zyklus. Es sollte eine seiner letzten Arbeiten sein.

Selten führte Uwe Scholz seinen Tänzer so bewusst in der Nähe des Bodens, selten versagte er so eindringlich seine sonst so typischen in die Höhe gewandten Bewegungen. Keiner konnte damals jubeln zur Dresdner Premiere, und wer später, nach dem Tod von Uwe Scholz, dabei war, als Derevianko sich in der Leipziger Oper im Gedenken an ihn noch einmal auf diese fragmentarische Winterreise begab, konnte erahnen, wie weit sich der Mensch Uwe Scholz schon ein Jahr zuvor auf seinen Weg des endgültigen Abschieds begeben hatte.

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