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Meetingpoint Music Messiaen – ein Mutmacher

Fotos: M. Morgenstern
Fotos: M. Morgenstern

„Diese Musik ist wie Jazz.“ Das hatte Albrecht Goetze immer wieder gesagt. Man könne sich ihr nicht entziehen, dieser Musik – dem „Quartett für das Ende der Zeit“. Olivier Messiaen komponierte dieses Quartett unter unsäglichen Bedingungen an einem Un-Ort, wo es am 15. Januar 1941 auch uraufgeführt wurde. Davon wusste Albrecht Goetze noch nichts, als er das Stück zum ersten Mal gehört hatte. Doch er war sofort davon infiziert und reiste, als er auf der Partitur des französischen Originals „Quatuor pour la fin du temps“ einen Eintrag auf den Entstehungs- und Uraufführungsort dieser Musik sah: „Stalag VIII A Görlitz“, umgehend nach Görlitz. Fündig wurde er jedoch erst, als man ihn auf die polnische Seite der Neiße-Stadt verwies. An einer Ausfallstraße von Zgorzelec erblickte er die Reste des einst von den Nazis errichteten „Stammlagers VIII A“ in einem ziemlich zugewachsenen Wäldchen.

In den Jahren des 2. Weltkriegs waren dort etwa 120.000 Menschen zahlreicher Nationen interniert; genaue Zahlen der Todesopfer sind bis heute nicht bekannt. Seit dem Sommer 1940 war dort auch der 1908 in Avignon geborene Komponist Olivier Messiaen eingesperrt. Immerhin konnte er während der Lagerhaft die Komposition seines heute weltberühmten „Quartetts für das Ende der Zeit“ beenden und das Stück am 15. Januar 1941 in der Theaterbaracke des Stalag VIII A uraufführen. Das etwa 50-minütige Werk ist einzigartig besetzt: Es ist für Klavier, Violine, Klarinette und Cello geschrieben, weil Messiaen und seine Mithäftlinge Jean Le Boulaire, Henri Akoka und Ètienne Pasquier genau diese Instrumente spielten.

Am 15. Januar 2015 musizierten nun Piotr Sałajczyk, Yuki Manuela Janke, Christian Dollfuß und Titus Maack dieses achtsätzige Quartett. Sie haben damit den Neubau des Europäischen Zentrums für Bildung und Kultur Meetingpoint Music Messiaen eingeweiht, der von Albrecht Goetze initiiert worden ist und für den Eva-Maria Stange den Grundstein gelegt hatte. Die sächsische Kunstministerin war auch vor Ort und würdigte das in der Rekordzeit von nicht mal einem ganzen Jahr errichtete Gebäude so: „Ich war fasziniert von der Idee, an diesem historisch schwer belasteten Ort eine Begegnungsstätte zu bauen und bin heute sehr glücklich, dass dies gelungen ist.“

Albrecht Goetze, der 1942 in Leipzig zur Welt kam, zum Werkzeugmacher ausgebildet wurde und nach seinem Weggang in den Westen als Regisseur und Komponist tätig war, brach im Jahr 2002 radikal mit seinem bisherigen Leben: „Ich wollte dort leben, wo diese Musik entstanden ist!“ Er ging nach Görlitz, arbeitete eine Weile am dortigen Theater, musste erfahren, was Personalabbau im Kulturbereich bedeutet, danach verkaufte er Zeitungen im Bahnhofskiosk. Die restliche Zeit widmete er seiner Vision, die von Messiaen und dessen Musik inspiriert war.
Das Quartett ist von betörender Innigkeit, in denen sich der bekennende Katholik Messiaen auf die biblische Offenbarung des Johannes bezog und „den Engel, der das Ende der Zeit verkündet“, ebenso zu Musik werden ließ wie die Farben des Regenbogens und – als Ausdruck absoluter Freiheit – die Stimmen von Vögeln. Nicht nur die Besetzung dieses Quartetts ist einmalig, sondern auch die Verteilung der Instrumente in den einzelnen Sätzen. Mal musizieren alle vier Stimmen, zwei Sätze sind als Duo notiert, jeweils einer als Solo und Trio.

„Musik ist ein Lebensmittel“

Albrecht Goetze, der sich rasch die polnische Sprache aneignete, brachte die Kommunalpolitiker von Görlitz und Zgorzelec zusammen, weckte im Freistaat Sachsen ebenso wie in der schlesischen Wojewodschaft das Interesse an der Idee eines Meetingpoint Music Messiaen e.V., der 2004 offiziell gegründet wurde. „Leid kann einen Ort heiligen,“ begründete er sein Engagement, „denn die Kraft des Geistes ist es gewesen, die Faschismus und Stalinismus zu überwinden half.“

Dieser Ort, an dem eine weltberühmte Musik entstand, die für Goetze „Lebensmittel und Überlebensmittel zugleich“ war, sollte jedoch nicht nur zum Pilgerort für Musikliebhaber und Fans von Messiaen werden, sondern in dieser trinationalen Region internationale Jugendarbeit ermöglichen. Wer je erlebt hat, wie Goetze vor Schulklassen sowie Seminargruppen sprach und ihnen die Musik von Messiaen nahebrachte, staunte zwar über das Sendungsbewusstsein dieses Mannes, war aber vor allem fasziniert von dessen Überzeugungskraft. Jährlich fanden Workcamps mit deutschen, italienischen und polnischen Schülerinnen und Schülern statt, um das Gelände zu sichten und zu sichern, um die Fundamente der Baracken freizulegen und mehrsprachige Hinweistafeln zu den Details des einstigen Lagers aufzustellen. Künftig sollen junge Menschen aus allen Nationen, die Opfer und Gefangene im Stalag VIII A zu beklagen hatten, zu diesen Jugendcamps eingeladen werden.

Während der Eröffnungsfeierlichkeiten wurde Albrecht Goetzes Credo noch einmal deutlich: „Gedanken haben eine unglaubliche Kraft. Damit kann man die ganze Welt bewegen. Etwas Furchtbares tun, aber auch etwas Gutes für andere.“ So überzeugend hat der Gründer und Inspirator des Meetingpoint auch immer wieder an die Fähigkeit von Menschen erinnert, „inmitten von Hass und Mord etwas Wunderbares zu schaffen“.

„Der Geist des Ortes“

Ende 2012 hat sich Albrecht Goetze aus gesundheitlichen Gründen von all diesen Projekten verabschieden müssen. Zu dieser Zeit wusste er aber längst von der Unumkehrbarkeit seiner Initiative, mit der er eine stattliche Zahl anderer Menschen regelrecht angesteckt hatte. Die Sächsische Staatskapelle etwa übernahm eine Patenschaft für den Meetingpoint und hat bereits wiederholt ihre Musiker in Görlitz und Zgorzelec auftreten lassen. Seit 2008 wird das „Quartett für das Ende der Zeit“ alljährlich am Uraufführungsdatum 15. Januar auf dem Gelände des einstigen Lages interpretiert. Bislang wurde dafür stets ein beheizbares Zelt aufgebaut. Unmittelbar nach dem Abbau des Zeltes im Januar 2014 erfolgte der Baubeginn für eine feste Spiel- und Begegnungsstätte, die nun genau 74 Jahre nach dem denkwürdigen Uraufführungsdatum eingeweiht wurde.

„Ohne Albrecht Goetze gäbe es das alles nicht,“ urteilt Frank Seibel, der heutige Vorstandsvorsitzende des Meetingpoint, „Albrecht Goetze hat ganz viel – nicht Überzeugungsarbeit –, er hat Vertrauensarbeit geleistet. Er ist ein Radikaler, ein Visionär, der ganz viele Menschen begeistert und beseelt hat. Was er mit seinem Charisma angestoßen hat, das lebt weiter.“ Als sich der Inspirator von diesem Projekt zurückziehen musste, tat er es so radikal wie alles in seinem Leben. Der 72-Jährige lebt heute in Berlin und weiß sein Lebenswerk in guten Händen. Das bisher in seiner Person vereinte Charisma sei auf ein von dieser Energie beseeltes deutsch-polnisches Team übergegangen, so Seibel.

Der als Begegnungsstätte mit Konzertsaal sowie Archiv- und Ausstellungsräumen entstandene Neubau soll nun im Verbund mit dem authentischen Ort die Möglichkeit bieten, sich intensiv mit der Geschichte der Kriegsgefangenenlager und insbesondere des Stalag VIII A zu befassen, um jungen Menschen Geschichte begreiflich werden zu lassen. Künftig soll dort viel mit zeitgenössischer Musik und Kunst gearbeitet werden, am einstigen Schreckensort wird ein Platz für Experimente und für Neues geschaffen. Als Bindeglied fungiert das im Kriegswinter 1940/41 entstandene Quartett von Messiaen, das noch immer zur Neuen Musik zählt. Ein absolut exemplarisches Werk über die Unantastbarkeit der Würde des Menschen selbst in einer schier ausweglosen Situation. Frank Seibel erklärt seinen Zugang zu dieser Musik so: „Das Stück war für uns auch eine Entdeckung. Es ist zwar ein Klassiker in der Musik des 20. Jahrhunderts, aber wir sind nicht damit aufgewachsen, wir haben die Musik auch für uns entdeckt, den besonderen Reiz, das Faszinierende entdeckt.“ Besonders habe ihn berührt, „dass man in Gefangenschaft, im Krieg solch eine Musik komponieren kann, die so gar nicht zynisch, nicht sarkastisch und nicht hoffnungslos ist, sondern ein ganz deutliches Bekenntnis zur Würde und eigentlich auch zur Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele und der menschlichen Fantasie ist.“

Dies dürfte ein Hauptmotiv gewesen sein, das Projekt des Europäischen Bildungs- und Kulturzentrums an dieser Stelle aufzubauen. Einerseits an das Leid und die Schrecken des Krieges zu erinnern und sich andererseits darauf zu beziehen, dass Menschen nicht kleinzukriegen sind, dass Musik und die Kreativität des Menschen tatsächlich ein Lebensmittel sind. Mit diesen Worten hat Albrecht Goetze das Projekt oft begründet, Mitstreiter gewonnen und über viele Jahre mit zäher Kraft aufgebaut. Musik ist ein Lebensmittel. In dieser Musik hört man das ganz besonders.

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