Allemonde ist ein furchtbarer Ort. Hierher kommt kein Tageslicht. Um die Sonne zu sehen, muss man auf den höchsten Schlossturm hinauf, das Fundament wird von Wasser umspült. Kein Wunder, dass hier kein Platz ist für Liebe. Allemonde ist eine Kulisse für Alpträume. Golaud, der einem Eber hinterher jagt, stößt im Wald auf die verirrte Mélisande und überredet Sie zum Mitkommen. Zwar weiß er nichts von Ihr, doch schon bald ist sie seine Frau. Dass das nicht gut gehen kann ist klar: Mélisande war schon im Wald völlig verwirrt und versenkte gerade eine Krone im Wasser, als Golaud sie fand. Das sind keine guten Voraussetzungen für eine Prinzenbraut. Das Unglück nimmt auf dem Königssitz von Arkel, dem besagten dunklen Schloss in Allemonde, seinen Lauf. Mélisande verliebt sich in den Bruder ihres Mannes. Pelléas kitzelt so die wilde Eifersucht in Golaud heraus, die letztendlich in Mord und Totschlag enden.
Claude Debussy brachte mit „Pelleas et Malisande“ vor etwas mehr als 100 Jahren in Paris ein symbolistisches Meisterwerk voller Rätsel zu Papier. Dabei ist die Geschichte auch eher ein Nebeneffekt. Es ist vielmehr ein musikalisches Emotionsbad, ein Weltentwurf ohne Licht und Liebe, eine frühe Form der später so populär werdenden Dystopie. Debussy packt sie in drei Stunden voller sphärischer Klänge. Die Staatskapelle bewegt sich durch diese Fülle an Klang behutsam und zielsicher. Meisterhaft zaubert sie dunkle Landschaften in die Köpfe und kitzelt so manche dunklen Ecken in der Phantasie der Zuschauer wach, von denen man lieber gar nichts gewusst hätte. Brilliant ist die Leitung von Marc Soustrot, der so mit dem Orchester beschäftigt schien, dass er die Sänger kaum beachtete – und Ihnen damit einen Gefallen tat: Camilla Tilling nämlich scheint die Verzweiflung schon in die Stimmbändern gewoben zu sein. So glaubwürdig angsterfüllend, herzzerreißend, flehend ist ihre Mélisande. Selbst in den Liebesszenen mit Pelléas ist das nahende Unheil zu hören, welches sie mit minimalen Gesten und einem präzisen Spiel so auf die Bühne bringt, dass der Zuhörer erschaudert.
Die Rolle des Pelléas liegt für den jungen Bariton Phillip Addis recht hoch. Im ersten Akt erklimmt er die Höhe noch. Bei so viel sportiver Anstrengung blieb der Rest der Rolle auf der Strecke. Schade, dass er erst kurz vor seinem Tod doch noch zeigen konnte, warum genau er der richtige Mann für den emotionalen Jüngling ist.
Auch der von Oliver Zwarg gesungene Golaud blieb etwas hinter den Erwartungen zurück. Stimmlich sauber und präzise konnte er die Gefühlsreise vom guten Jäger zum eifersüchtigen Ehemann nicht völlig glaubwürdig zeigen.
Umso beeindruckender Tillmann Rönnebeck: Der Bass sang und spielte den alten Arkel mit einer Altersmilde und Weisheit, dass man den König persönlich auf der Bühne wähnte. An seiner Seite spielerisch und stimmlich wie immer auf höchstem Niveau: Christa Mayer als Geneviève.
Ein grusliges Reich ohne Sonne
Sie alle schienen sich jedoch nicht zu sehen oder sehen zu wollen. Einsam verlaufen sie sich aneinander vorbei auf einer Bühne voller Wasser und einem Wald voller Bäume aus Stahl. „Ich werde aus diesem Wald niemals herausfinden“, sagt Mélisande. Dieser Satz prägt das Bühnengeschehen. Das Schloss, ein riesiger Stein voller Räume, die sich zeigen und wieder verschwinden, könnte Tarkowski’s „Stalker“ Konkurrenz machen. Alfons Flores schuf hier wahrlich eine Bühne, die Debussys Musik nicht besser bebildern kann. Halbdurchsichtige Wände, Zimmer voller schauriger Leere, diffuses Licht – gruselig schön ist dieses Reich ohne Sonne. Die Kostüme von Lluc Castells sind fast schon filmisch dezent. Viel Platz bleibt da für die Sänger, etwas draus zu machen.
Was Àlex Ollé in dieser geheimnisvollen Welt veranstaltet? Bildertheater! Er lässt die Figuren einsam durch das Wasser stapfen, choreografiert und führt sie, lässt die Akte mit schönen Schlussbildern zu Ende gehen. Eine Geschichte erzählt er hingegen nicht. Das scheint auch gar nicht das Ziel zu sein. Vielmehr will Ollé, der der katalanischen Performancetruppe La Fura dels Baus angehört, die Rätsel, die das Werk stellt, an den Zuschauer weitergeben. Das gelingt Ihm gut. All die unerklärlichen Passagen des Textes werden nicht gedeutet – der Zuschauer muss die Antworten selbst suchen.
Leider arbeitet Ollé an einigen Stellen, die klar scheinen, gar zu forsch: Da wird Golaud in einer Eifersuchtsszene, die musikalisch und stimmlich schon vor Gewalt strotzt, zum Prügelknaben und vermöbelt seine geliebte, hochschwangere Mélisande. Der alte Arkel wird in seiner altersmilden Zuneigung zu Damen zum Grabscher stilisiert und muss das Mädchen sehr unsittlich anfassen, während die Musik ihn eigentlich nur leise sabbern lässt. Viele Geschichten und Nuancen, die musikalisch dezent angedeutet werden, kommen so ausgepackt auf die Bühne. Das ist schade.
Es bleibt dennoch eine Fülle an Rätseln zu lösen. Wie nach einem Tarkowski-Abend wollen die Gedanken nach dem Verlassen der Oper nicht stillstehen. Ist Mélisande vielleicht einfach ein Traum von Golaud? Nein, das wäre zu einfach. Und andersherum? Oder durfte man vielleicht gerade Gast sein, im Traum eines Fremden? Oder war es schon der eigene Traum? Wenn das Theater im Kopf weiterspielt, während die Bühne der Oper schon längst im Dunkeln liegt: das ist ein gelungener Abend.