Kunst und Kultur sind dazu da, dass sich Menschen berühren, sich emotional anrühren lassen. Sie können Bekenntnis vermitteln und Haltung erzeugen. Auch in einer Kunst- und Kulturstadt wie Dresden sind die schöngeistigen Dinge nicht nur dazu da, sich über steigende Tourismusumsätze den Bauch zu beklatschen. Die Kultur ist so wenig wie die Künste ein Wirtschaftsfaktor, sondern ein Lebensprinzip.
Ein Beispiel für besonders kulturvolle Kunstausübung gab es am Wochenende mit der „Dresdner Winterreise“ in der Kreuzkirche. Während ganz in der Nähe die Empörten und die von den Empörten Empörten gemeinsam mit kaum minder empörenden Maßnahmen der Polizei diesmal am Sonntag das städtische Leben wieder weitgehend lahmlegten – und so einmal mehr für überregionale Schlagzeilen sorgten –, herrschte in der Kirche am Altmarkt ein ganz erstaunlicher Kontrast. Bei freiem Eintritt war dort zu einem Projekt der Treberhilfe e.V. geladen, die sich seit 1996 um wohnungslose Menschen kümmert. Den Bus dieses Vereins haben wir vielleicht alle schon einmal gesehen, ein im hiesigen Stadtbild zum Symbol gewordenes Gefährt im Dienste nicht sesshafter Mitbürger. Oder wird man zum vollwertigen Mitbürger erst durch die Eigentumswohnung?
So manche Bilder und Eindrücke waren nach 1989 neu im Osten Deutschlands, so auch in der sächsischen Landeshauptstadt: Bettler, Menschen ohne Obdach, Menschen, die hungern und auf Almosen von anderen angewiesen sind. Zuvor hatte es das nicht gegeben – inzwischen zählt auch all dies zu den gesamtdeutschen Tatsachen, die seitdem ebenso gesamtdeutsch allzugern übersehen werden. Man tut immer so, als gehörten diese Frauen und Männer nicht zur Gesellschaft, als wären sie überhaupt nicht existent. Viele von ihnen geraten schon im jugendlichen Alter auf die Straße, manche hoffen noch auf irgendeine Zukunft, andere haben diese Aussicht schon längst als Illusion angetan.
Zur „Dresdner Winterreise“ saßen manche von ihnen mitten im eng besetzten Kirchengestühl. Einige hatten sogar ihre Hunde dabei. Nach einigem Sonntagsgerede begann das knapp zweistündige Projekt dieser ganz besonderen „Winterreise“, die Franz Schuberts ergreifende Musik zur bittertristen Dichtung von Wilhelm Müller mit authentischen Dokumenten von heute verband. So erhielten die aus was für Gründen auch immer zu Unbehausten gewordenen Menschen ein Podium. Geschickt wurden da Schicksale von Kindern und Jugendlichen, deren Authentizität sich wohl niemand im andächtigen Publikum zu entziehen vermochte, in den Liedzyklus eingewoben. Bekannte Zeilen wie „Fremd bin ich eingezogen“ erhielten plötzlich einen ganz anderen, vielleicht den ursprünglichen Sinngehalt – die völlige Einsamkeit des Menschen. Müllers Dichtung jedenfalls, deren Tragik ohnehin stark berührt, ging hier unter die Haut. Denn der gesamte Zyklus klingt schon nach Abschied, nach Moder, ist auf der Suche nach einem Dach über den Kopf, nach einem geliebten Menschen und einem Zuhause. Doch jeder Traum in diesen Texten, ob nun vom Frühling oder von Liebe, macht das Leiden nur umso stärker bewusst. Wenn es nur mehr aus Enttäuschung und Tränen, Rückblick und Irrlicht besteht, wenn es von keiner Post, keiner Botschaft mehr aufgehellt wird, steuert es scheinbar unvermeidlich auf Grab und Leiermann zu. „Keiner mag ihn hören, / Keiner sieht ihn an, / Und die Hunde knurren / Um den alten Mann.“
Man hätte bloß diesen Liedern lauschen müssen, um so zu verstehen, wie heutig dieser ergreifend schmerzvolle Zyklus ist. Die „Dresdner Winterreise“ aber ging mit drastischen Orts- und Realitätsbezügen noch weit darüber hinaus. Mehrere Schauspielerinnen und Schauspieler trugen zwischen den Liedern ungeschönte Texte vor, in denen aus dem Leben betroffener Menschen berichtet wird. Wer hier zugehört hat, mag das alltägliche Wegschauen bei Sprüchen wie „Haste mal ’nen Euro“ vielleicht überdenken, ebenso die herablassende Antwort „Geh doch arbeiten“ oder die vermeintliche Großzügigkeit, wenn doch mal ein Euro in die bettelnde Hand getan wird. Und selbst das Thema Drogen wurde zumindest teilweise verständlich. Es ist nicht immer einfach, diesen Schritt angesichts von Begleitumständen wie Panikattacken und Verfolgungsängsten zu wagen. Auch die begründete Sorge, das mühsam erschnorrte Geld für schmutzigen Stoff auszugeben, schwingt darin mit. Schonungslos wurde von Ängsten berichtet, von Gewalt in der Familie, im Jugendwerkhof, bei der Polizei, in der Psychiatrie oder auch auf der Straße. Drastischer geht es wohl kaum: „Hast Du schon mal in der Zeitung gelesen ‚Wildschwein verprügelt Obdachlosen‘? – Nein? Dann weißt Du, warum ich lieber im Wald schlafe.“
Die meisten Menschen im Publikum dürften nie zuvor so eindringlich zupackend mit dieser Problematik konfrontiert worden sein. Schuberts „Winterreise“ werden sie kaum vorher in einer solchen Konstellation erlebt haben: Klavier, Orgel und Kontrabass begleiteten all die Sängerinnen und Sänger, die vom Altarraum aus, von der Empore und ganz oft auch durchs Kirchenschiff schreitend diesen Liedzyklus vortrugen. Hier ging es mal nicht um künstlerische Leistungen, deswegen darf auch auf jede Namensnennung verzichtet werden. Hier ging es um Anteilnahme am Mitmenschen.
So geriet die „Dresdner Winterreise“ zu einer Art Andacht. Sie ließ das eitle Gerede der Gattin eines ehemaligen Ministerpräsidenten, die von Dresdens kriechenden Diederich Heßlings einst zur „Landesmutter“ erhoben worden ist, zum Glück sehr rasch wieder vergessen. Zum bevorstehenden 85. Geburtstag ihres Mannes wolle sie reiche Menschen einladen und von deren Spenden gern etwas abgeben. Sie hätte all diese Freunde vielleicht zur „Dresdner Winterreise“ einladen sollen? Hier hätten sie erfahren, wie verschieden die Umstände sein können, wegen der Menschen ihr Obdach verlieren. Denken wir daran, wenn wir durch die Werbe- und Warenwelt unserer Städte gehen?
Auch der letzte Satz dieses Abends ist äußerst nachdenkenswert: „Nichts ist schlimmer, als wenn dich keiner mehr fragt.“
www.dresdner-winterreise.de
www.treberhilfe-dresden.de