Zunächst ein Streifen am weiten Horizont der Tanzlandschaft, der uns sanft berührt. „Closer“ von Benjamin Millepied. Der „Tausendsassa für den Tanz“, wie es in der Süddeutschen Zeitung hieß, ist jetzt Ballettchef an der Pariser Oper. Bekannt wurde er nicht zuletzt durch den Film „Black Swan“. Ein Paradestück für jede große Gala ist sein Pas de deux „Closer“ zur Klavierkomposition „Mad Rush“ von Philip Glas. Das Stück aus dem Repertoire des Ballett Dortmund eröffnet den am Ende bejubelten Abend.
Wie klug in seiner Konzeption Ballettdirektor Xin Peng Wang gerade diese Hommage an die Kunst des Pas des deux in der Abfolge des Abends gesetzt hat, wird sich erst am Ende erschließen. Dann nämlich, wenn das Licht verlischt, kaum noch ein Streifen der Hoffnung am Horizont der so ungewiss wie tragisch zu Ende gegangenen Geschichte der stummen Pianistin Ada McGrath in Jiří Bubeníčeks Uraufführung seines Balletts gleichen Titels nach Jane Campions Film „The Piano“, dann spüren wir wie weit der Bogen gespannt war an diesem Abend.
Zunächst die milden Streifen der Zärtlichkeit in Benjamin Millepieds „Closer“, 2006 für das New York City Ballet kreiert. Varianten der Nähe, deren größte Kraft sich erweist, wenn sie den Abstand zulassen kann. Schmiegsam und elegant bewegen sich Monica Fotescu-Uta und Mark Radjapov durch die Facetten neoklassischer Tanzkunst zur mitunter überraschend dunkel grundierten Komposition „Mad Rush“ von Philip Glass, dessen „Minimalismus“ hier schon mal die Abgründe romantischer Empfindsamkeit streift.
Die Pianistin Tatjana Prushinskaya atmet mit den Tänzern und bei ihrem Spiel von Begleitung zu sprechen wäre unangemessen.
Ganz anders dann die Streifen der Zweisamkeit in den Dortmunder Erstaufführungen von Demis Volpi, dabei als Uraufführung sein Duett zu Igor Strawinskys swingender Musik „Ebony Concerto“ von 1945.
Drei Streifen Tanz also mit dem Stuttgarter Hauschoreografen, bestens vertraut mit neoklassischen Traditionen und Techniken á la Cranko und dennoch gewandt und aufgeschlossen um in seinen drei Stücken an diesem Abend durch weitere, zeitgenössischere, Gefilde des Tanzes zu streifen.
Spielerisch, aber nicht verspielt, ein wenig nostalgisch auch, aber auf keinen Fall rückwärtsgewandt, zunächst „Little Monsters“ zu den Ohrwürmern „Are You Lonesome Tonight“, „Love Me Tender“ und „Want You / Need You / Love You“ von Elvis Presley.
Stephanie Ricciardi und Francesco Niro erzählen mit ihrem Tanz eine kleine Liebesgeschichte ohne Happy End. Dafür beglücken sie das Publikum mit der Kunst ihres Tanzes, außergewöhnlich bei ihren Versuchen aus der Distanz keine Entfernung werden zu lassen. Die ausdrucksstarken Bewegungen der Arme und das Spiel der Hände sind von besonderem Reiz und Anspruch. Abstrakter streifen dann Clara C. Sorzano Hernandez und Andrej Morariu in „Private Light“ zu Musik von Carlo Domeniconi und Heitor Villa-Lobos weitere Varianten der Zweisamkeit. Da ist die selbstbewusste Tänzerin mit toller Spitzentechnik, verblüffend, wenn man erkennt, dass sie so gut wie nie mit beiden Spitzen den Boden berührt. Kommt der Partner hinzu, gibt es Berührungen im Tanz, bleibt sie auch bei den Vorgaben in der „Spitzenposition“, und es macht viel Spaß zu erleben wie ein Mann auf verlorenem Posten in einer Beziehung mit ungewissem Ausgang seine Position hält und ganz und gar nicht auf verlorenem Posten tanzt.
Zog sich schon durch diese Kreationen von Demis Volpi ein angenehmer Streifen heiterer Ironie, dann jetzt, in der Uraufführung erst recht. So wie Igor Strawinsky sich mit seinem „Ebony Concerto“ auch mit einem gewissen Augenzwinkern in die Gefilde der Jazz- und Swingmusik begibt, so nimmt der Choreograf diese bewegte Heiterkeit auf und gibt mit seinen tänzerischen Erfindungen noch etliche Streifen aus Witz und Übermut hinzu. Keine Geschichte, keine Handlung, Musik bewegt, und wie sich Denise Chiaroni und Giuseppe Ragona hier rasant bewegen lassen, das bewegt auch das Publikum. Mit Jubel geht es in die Pause.
In Dortmund bringen sie ihre tänzerisch wie optisch beeindruckende Kreation „The Piano“ nach dem gleichnamigen Film zur Uraufführung. Auf Michael Nymans Musik können sie nicht verzichten. Otto Bubeníček hat zudem für die Choreografie seines Bruders im kunstvollen Lichtdesign von Carlo Cerri eine musikalische Collage „komponiert“, die von der Romantik bis in die Modere führt und Musik der Maoris einfügt. Das sind Klangkorrespondenzen zu großflächigen Projektionen stürmischer Brandung an der Küste Australiens oder üppiger Vegetation von sinnlicher Urkraft, dann wieder in krassem Schnitt europäische, englischer Bürgerlichkeit und puritanische Enge, wie sie die Kolonialmacht mitgebracht hat.
In dieser Welt optischer Widersprüche prallen die Widersprüche der Emotionen und Lebensansprüche aufeinander. Mit den Kostümen von Elsa Pavanel führt das Ballett in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber in der choreografischen Gestaltung der Konflikte zwischen der stummen Pianistin Ada McGrath, dem streng in sich selbst verschlossenen Alisdair Steward und dem zwischen den Welten seiner europäischen Herkunft und der Faszination für die Ursprünglichkeit der Ureinwohner changierenden George Baines gelingt es iří Bubeníček auf so verblüffende wie beeindruckende Weise, besonders im jeweils handlungsverbundenen Pas de deux, den dynamischen Bogen bis in die Gegenwart zu spannen. Immer wieder gilt es die Chancen der Aktualität, jenseits von Moden oder purem Zeitgeist verpflichteten Aktualisierungen, in der Würdigung der Traditionen zu suchen und zu finden. Allein daher schon birgt dieser Ballettabend mit seinen Entdeckungen am Ende weitaus mehr als drei Streifen Tanz.
So wie der Pianistin die Sprache versagt ist, sie aber mithilfe eines Instrumentes in ganz andere Bereiche der Kommunikation vordringt, die natürlich im Tanz ihr bestes Ausdrucksmittel finden, so ist jener Alisdair Steward auf andere Weise verstummt. Dmitry Semionov, den man selten dermaßen expressiv und charaktervoll als Tänzer und Darsteller mit Wahnsinnspotenzial erlebt hat, kann nur extrem und verletzend handeln und in wütendem Neid auf die Möglichkeiten des Ausdrucks kraft der Musik die Hand der Pianistin verstümmeln. Dass er so die eigene, ohnehin verkrümmte Seele vollends verstümmelt, lässt ihn in tragischer Einsamkeit zurück.
Andere Facetten eines so zerrissenen wie einsamen Menschen kann Arsen Mehrabyan als George Baines zeigen, ein Mensch zwischen den Welten, ein Mann zwischen ungebremster Emotion und pfiffiger Berechnung, tänzerisch kann er dies mit den Facetten seines Könnens glaubhaft machen.
Ob in der Verunsicherung, in der Einsamkeit, in der beständigen Befürchtung missverstanden zu werden, ob mit den extrem ausgereizten Mitteln der Pantomime oder dann immer wieder im Tanz mit den Partnern, in den verzweifelten Situationen ganz allein und auf sich gestellt, gesteigert bis in Momente des Wahnsinns, nicht zu vergessen die so erotisch wie sexuell grundierten, von daher treibhaften Situationen, ob zunächst auf halber oder später auf ganzer Spitze: Emylie Nguyen als Ada McGrath ist einfach Spitze.
Und dies inmitten eines bestens aufgelegten Ensembles, in exotischen Szenen als Maoris, Landbevölkerung oder Matrosen, prägnant dabei Casey Hoskins als Flora, Jelena-Ana Stupur und Sayo Yoshida als Aunt Morag und Nessie oder Arsen Azatyan als so auf- wie durchgedrehter Reverend.
„Drei Streifen: Tanz“ in Dortmund, ein großer Abend, ein Abend großer Emotionen, heiter und ernst, tragisch und komisch zugleich.