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Ich muss fort von mir!

Ich will einmal so beginnen: Nach der mit viel Beifall bedachten Premiere von Hans Werner Henzes 80-minütiger Konzertoper „Phaedra“ (UA 2007) war ich unfreiwillig Zeuge eines geradezu symbolisch verdichteten Gesprächs über das eben Gehörte. Eine Dame (offensichtlich Stammgast der Hallenser Oper) plauderte mit einem Mitarbeiter des Hauses: „Ich bin verstört, ehrlich verstört. Männer schneiden sich den Schniedel ab, bekommen Brüste und die Frauen sehen alle aus wie Barbie. Ich bin verstört.“ Darauf der Mitarbeiter: „Ja, ich war in der Generalprobe und habe bestimmt einfach nicht alles verstanden. Aber wir sind irgendwie alle Phädra.“ Die Besucherin: „Ja stimmt, wenn man es so sieht. Also mach’s gut, mein Lieber. Bis bald!“

Spiegelungen. Olga Privalova (Phädra, links) und Ines Lex (Aphrodite)
Spiegelungen. Olga Privalova (Phädra, links) und Ines Lex (Aphrodite)

Was war geschehen und was war zu sehen? In einer künstlerischen Zusammenarbeit, die in ihrer Intensität und Qualität in ein paar Jahrzehnten vielleicht einmal als eine der bedeutenden Künstlerbegegnungen des frühen 21. Jahrhunderts bewertet werden wird, hatten Hans Werner Henze und der sächsische Lyriker und Theologe Christian Lehnert 2004 zusammengefunden, um den Mythos von Phädra und Hippolyt poetisch zu verdichten und neu zu fassen. Entstanden ist ein verstörend-abgründig-aufwühlend-begeisterndes Meisterwerk, in dem sich Text und Musik permanent umkreisen, durchdringen, spiegeln und zu Botschaften und Atmosphären verbünden, die wohl kaum jemanden unberührt zurücklassen.

Dieser Effekt war zur Premiere am 13. März in Halle deutlich spürbar. War noch wenige Sekunden vor Beginn allerorten Plaudern, waren skeptische Äußerungen und ausgestellte Aversion gegenüber zeitgenössischer Musik zu hören, so verstummten mit den ersten Klängen diese wohl unausweichlichen Premierensymptome. Überhaupt: das Orchester! Unter der Leitung von Robbert van Steijn lieferte die Staatskapelle Halle eine mehr als überzeugende Leistung. Agil, farben- und nuancenreich führte van Steijn die 26 Musiker durch das Werk. Hier erlebte man ein Orchester, das mit spürbarer Neugier und Mut zur Qualität aus einer komplexen zeitgenössischen Partitur alle denkbaren und undenkbaren Farben herausholte. (Das Werk war ursprünglich den Spezialisten des Ensemble Modern auf den Leib geschrieben.) Besondere Erwähnung verdienen die beiden Perkussionisten Ivo Nitschke und Hagen Hauser, die nicht weniger als 60 Elemente zu schlagen und zu bewegen hatten.

"Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?"
„Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“

Bei der anschließenden Premierenfeier betonte der Intendant der Oper Halle, Axel Köhler, ausdrücklich und mit hörbarem Stolz, dass er dankbar ist, ein hauseigenes Ensemble zu haben, das sich eines solch anspruchsvollen Werkes anzunehmen vermag. Er weiß, wovon er spricht, schließlich gab er selbst, auf ausdrücklichen Wunsch Henzes, bei der Uraufführung 2007 den Artemis.
Tatsächlich waren die Sängerleistungen durchweg gut und überzeugend. Olga Privalova (Sopran) als Phaedra (sie war kurzfristig krankheitsbedingt eingesprungen!) hatte zu Beginn noch ein paar Schärfen, die sich mit zunehmendem Verlauf aber abschliffen. So konnte sie immer wieder Momente kreieren, in denen die Stimme zwischen Extrovertiertheit und einer gewissen kalten Härte changierte, um dann plötzlich – nach innen gekehrt – weichere Töne zuzulassen. Ines Lex (Sopran) als Aphrodite hätte der mythischen Figur gemäß hier und da stimmlich etwas einschmeichelnder und sinnlicher agieren können, fühlte sich in ihrer Rolle aber insgesamt stimmlich wie schauspielerisch spürbar wohl und hatte vor allem die größte stimmliche und sprachliche Präsenz. Eine ähnliche Direktheit erreichte der Countertenor Michael Taylor. Seine Altusstimme war bis in die Spitzentöne hinein klangschön und strahlkräftig. Als jugendlicher Artemis sorgte er vor allem im zweiten Teil bei der operativen Geschlechtsumwandlung des Hippolyt für einen verstörenden Höhepunkt.
Für den Tenor Robert Sellier war von der Regie eine sehr risiko- und aktionsreiche Interpretation des Hippolyt vorgesehen. Eine große Aufgabe, die er großartig umsetzte! Mitunter schob sich, vielleicht aufgrund der körperlichen Anstrengungen auf der Bühne (Liegestütze, sit-ups, Bogenschießen…), ein leichter Schleier vor die Stimme, der in der Höhe die Strahlkraft einkassierte. Aber das ist kritisieren auf hohem Niveau.

Á propos hohes Niveau: Sprechen wir über die Regie von Florian Lutz. Nicht zuletzt angesichts des Schlussapplauses wurde deutlich, dass der 35-jährige gebürtige Kölner der heimliche Star des Abends war. Er deutete die Oper als ein Erkunden von Identitäten, er löste Geschlechterrollen auf, in dem er hybride Wesen schuf, die sich gegenseitig spiegelten. (Ich erinnere an dieser Stelle an das Anfangszitat der Opernbesucherin). Unter Zuhilfenahme von Statisten wurde die Idee dann noch rätselhaft erweitert. Und er ließ die polyidentitären Körper auf einer Drehbühne mit hohem Tempo labyrinthische Räume durchsteigen und auf geheimnisvolle Weise an anderer Stelle wieder erscheinen. Diese Raummodule wurden zudem (eine logistische Meisterleistung der Bühnentechnik!) auf der Rückseite des Bühnenraumes in Windeseile permanent verändert. Dadurch, dass die vier Hauptfiguren, ob männlich oder weiblich, alle gleich kostümiert waren, schufen der Regisseur und sein kongenialer Partner Sebastian Hannak (Bühne und Köstum) verblüffende und fesselnde Theatermomente.

Und nun kommen wir zu einem Dilemma, das sich aber auflösen lässt. Was gäbe es nicht noch alles zu erzählen über diesen kurzweiligen Abend mit den lang anhaltenden Denkanstößen, unzähligen raffinierten Einfällen und den ausufernden Anschlussperspektiven in der Reflexion des modernen Menschen und der modernen Frage, die der antike Hippolyt mit existentieller Dringlichkeit stellt: „Wer bin ich?“ Doch das lässt sich hier und jetzt nicht alles durchdringen.
Die Lösung? Auf nach Halle.

Dr. Oliver Geisler

 

Die nächsten Vorstellungen der „Phaedra“ sind: 15.3. (15 Uhr), 18.3., 21.3. und 10.4. (jeweils 19.30 Uhr)
Zusatzinfo: Drei mitteldeutsche Opernhäuser haben sich zu einer schönen Idee und einer Initiative für zeitgenössisches Musiktheater verbündet. Henze in Halle, Peter Eötvös in Chemnitz und Philip Glass in Magdeburg können in einem Kombiticket besucht werden. Bei Vorlage einer Eintrittskarte für eine der drei Opern erhalten die Zuschauer jeweils 50% Rabatt an den anderen Häusern.

Fotos: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle, Copyright by Anna Kolata, Statisterie der Oper Halle, Ines Lex (Aphrodite), Robert Sellier (Hippolyt), Olga Privalova (Phaedra), Michael Taylor (Artemis), Ulrich Burdack (Theseus / Minotauros)

 

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