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Ein wunderbarer Scherbenhaufen

Bertrand de Billy, Jean-Yves Thibaudet und die Dresdner Philharmonie im 16. Albertinum-Konzert

In Komponistenkreisen folgt den Seufzern über die seltene Aufführung eigener Werke meist der flapsige Satz des Gegenübers: „Wart’s ab, bis du tot bist.“ – Wenn man die Konzertkalender landauf, landab betrachtet, steckt leider ziemlich viel Wahrheit in dem Satz – das Ableben generiert auch in anderen Kunstgenres Umsatz. Abgesehen von dem monetär begleiteten Umstand der bloßen Wiederaufmerksamkeit darf man im klassischen Bereich Ernsthaftigkeit unterstellen – die erneute Beschäftigung, das Erinnern und Aufführen kann zu neuen Erkenntnissen führen, würdigt zudem schlicht das Lebenswerk des verstorbenen Künstlers.

Der französische Komponist Henri Dutilleux (1916-2013)

Die Musik von Henri Dutilleux erklang zu seinen Lebzeiten häufig in Frankreich. Seit dem Tod des Komponisten vor zwei Jahren setzen auch außerhalb des Landes  Orchester vermehrt seine Werke auf die Programme – Cellisten und Geiger schätzen seine beiden Solokonzerte. Die Dresdner Philharmonie hatte sich Dutilleux 2. Sinfonie „Le Double“ ausgesucht, die 1959 in Boston uraufgeführt wurde. Mit Bertrand de Billy stand im Albertinum der Erste Gastdirigent der Dresdner Philharmonie am Pult – er gilt nicht nur als Spezialist für französische Musik, sondern führt mit allen seinen Orchestern auf selbstverständliche Weise neue und neueste Musik auf.

Bertrand de Billy

Dem Autor dieser Zeilen gelang zufällig auch eine optimale Vorbereitung auf das Konzert – erst am Freitag dirigierte die Finnin Susanna Mälkki bei den Wiener Festwochen ein Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters – dort standen die „Métaboles“ von Dutilleux auf dem Programm, die wenige Jahre nach der zweiten Sinfonie entstanden sind, außerdem – wie in Dresden – „La Valse“ von Maurice Ravel. Zudem hat de Billy dem ORF-Orchester einige Jahre als Chef vorgestanden. Die Verbindung mit Ravel ist sinnfällig – zwar würde man Dutilleux Unrecht tun, ihn als Traditionalisten zu bezeichnen, ohne die Vorarbeit von Debussy und Ravel ist aber seine Musik nicht denkbar, sie klingt wie eine logische Fortsetzung in dennoch ganz eigener, unverkennbarere Handschrift.

Das war es auch, was die Dresdner Aufführung von Dutilleux 2. Sinfonie so wertvoll machte: de Billy schaffte es, trotz einer enorm schweren Binnenstruktur (symbolträchtig verschwand Soloklarinettist Hans-Detlef Löchner zu Beginn noch einmal in den Katakomben, um sein Binocle zu holen) in allen drei Sätzen eine sinnliche Leichtigkeit aufzubauen – sofort fallen einem da französische Vokabeln ein: Flair, Esprit, Nonchalance. Ein Concertino vor dem Orchester sorgte für die Auslösung der Double-Dialoge im ersten Satz. Der sanft wiegende zweite Satz schien sich wie auf einer Wasserfläche abzuspielen, der dritte hingegen täuscht einen „fuocoso“-Ausklang nur vor – vortrefflich gelang de Billy hier die verspielte Haltung (ein wenig klang es, als ob sich Messiaen und Hindemith in einem Spiegelkabinett begegnen würden) und vor allem das überraschende Umlenken des Stückes in den finalen Calmato-Abschnitt. Sicherlich war das für viele Zuhörerohren ein ungewohntes Stück Musik, aber von der Philharmonie und ihrem Ersten Gastdirigenten eine herausragende, wichtige Würdigung eines Komponisten, bei dem Sinnlichkeit und organische Form so einleuchtend und gleichzeitig vielfarbig aufeinandertreffen.

„La Valse“ wurde an das Ende des Konzertes gestellt, zuvor gab es nach der Pause eine Wiederbegegnung mit einem weiteren oft und gern gehörten Gast der Philharmonie: der französische Pianist Jean-Yves Thibaudet hat auch im Kulturpalast schon mehrfach begeistert. Wie würde seine Interpretation des knorrigen Klavierkonzertes Des-Dur von Aram Chatschaturjan (das die Dresdner Philharmonie übrigens bereits 1965 mit der Tschechin Mirka Pokorná für die Schallplatte einspielte) ausfallen? Was als allererstes aus der Partitur zu Boden fiel, war das „non troppo e maestoso“ aus der Tempoangabe zum ersten Satz. Thibaudet rauschte mit mächtig Tempo durch den Klaviersatz, dem fiel gleich in der Exposition ein Tutti zum Opfer. Sicher, damit befreite er das Konzert von mächtiger armenischer Erdenschwere, soviel Drama wie in den Kadenzen war aber zuviel des Guten. de Billy folgte Thibaudet so gut es ging, viele Motive und prägnante Rhythmen verloren aber in diesem etwas ziellosen Getobe ihre Schärfe. Schön allerdings gelang der langsame Satz, wo auch der von Chatschaturjan vorgeschriebene Flexaton-Part im Hauptthema von einer Singende Säge (Ricarda Micada) übernommen wurde. Thibaudet erhielt für seinen Kraftakt starken Applaus und bedankte sich mit „Pavane pour une Infante défunte“ von Maurice Ravel, das zwar perfekt zum Schlusswerk überleitete, man hat dieses Klavierstück aber auch schon inniger gehört.

Der Rausschmeißer funktionierte dann wunderbar und war nicht nur als solches gedacht – die Brücke zu Dutilleux gelang, weil de Billy ein wunderbar schwingendes Tempo für Ravel gefunden hat, auf dem die Philharmoniker sich mühelos freispielen konnten. Das 1919/1920 als Totentanz für das walzerselige  alte Vorkriegseuropa entstandene Werk bricht als Gebäude denn auch am besten zusammen, wenn man in den Schlusstakten eben nicht auf hochglanzklassische Akkuratesse setzt, sondern sich quasi bis zum finalen Akkord im Dreier weiterdreht. Ein wunderbarer Scherbenhaufen.

Das Konzert  wird heute um 19.30 im Albertinum wiederholt.

Fotos: Marco Borggreve / PR Philharmonie und Jean-Pierre Muller/AFP

 

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