Vor zwei Jahren, also genau 100 Jahre nach der Uraufführung des Balletts „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky durch Diaghilews Ballets Russes in der Choreografie von Waslaw Nijinsky im Théâtre des Champs-Élysées in Paris, hatten sich in einer durch den Tanzfonds Erbe geförderten Kooperation die Theater in Bielefeld und Osnabrück daran gemacht, mit ihren Kompanien die Choreografie der deutschen Ikone des Ausdruckstanzes Mary Wigman aus dem Jahre 1957 wieder auf die Bühnen zu bringen.
Mary Wigmans Version entstand damals als Produktion der Berliner Festwochen, wurde in der Deutschen Oper gespielt, aber nach sieben Aufführungen nicht ins Repertoire übernommen. Bis vor zwei Jahren wagte sich sich keine andere Kompanie an die Rekonstruktion. Dies ist auch nicht ohne Schwierigkeiten: es gibt keine Filmaufnahmen, kein vollständiges Dokumentationsmaterial, lediglich Fotografien und persönliche Aufzeichnungen und interessante Skizzen, etwa in der Partitur. Aber es gibt noch Tänzerinnen, die damals dabei waren, als in Berlin auf der schräg geneigten, runden Scheibe die 45 Tänzerinnen und Tänzer des Balletts der Deutschen Oper mit Dore Hoyer in der Opferrolle und in eigener Choreografie, dieses Frühlingsopfer vollzogen. Diese Tänzerinnen mit ihren Erinnerungen gehörten zum Team unter der Leitung von Henrietta Horn, die das Ballett zunächst in Osnabrück und dann in Bielefeld mit 25 Tänzerinnen und Tänzern auf die Bühne brachten.
Vor einem Jahr hat dieses Team die Rekonstruktion mit dem Bayerischen Staatsballett in der originalen Besetzung mit 45 Tänzerinnen und Tänzern, auf der nach dem originalen Bühnenbild von Wilhelm Reinking gestalteten Bühne in der Münchner Reithalle heraus gebracht. Zunächst in der musikalischen Fassung für zwei Klaviere, jetzt im Prinzregententheater mit vollem Orchester, Myron Romanul dirigiert die Münchner Symphoniker. Das wollte ich erleben, immerhin eine Choreografie nach Mary Wigman, da ist man – wenn auch als Wahldresdner – doch interessiert. Mein Eindruck, das mag ja ganz natürlich sein, ist meilenweit entfernt von der Freude zuvor, beim Erlebnis von Oskar Schlemmers Farb- und Figurenfantasien des Triadischen Balletts.
Jetzt stampfen die Burschen und die Mädchen mit langen Zöpfen schmiegen sich zierlich in beschwörenden Kreisbildern. Sie sitzen als Paare, dazu schreiten weise Frauen, Priester und Mütter mitunter durch exakt hingelegte, von Körpern begrenzte Gassen der Tänzerinnen und Tänzer. Das ganze wirkt leicht museal; es ist kaum anzunehmen, dass diese Arbeit der Wigman wieder ins Repertoire der Ballette zurück kommen wird. Zu problematisch scheint auch die geradezu messianische Stilisierung des selbstlosen Opfers eines Menschen zum Wohle der Masse. Dieses Frühlingsopfer wird zu einer Frühlingsweihe, auch wenn das Solo des Opfers im roten Kleid in der genialen Nachempfindung dieser Kreation von Dore Hoyer, an diesem Abend durch Ilana Werner, zum Höhepunkt der Aufführung wird. Insgesamt aber ist wahrzunehmen, dass Mary Wigman mit ihren Soli aus der frühen Zeit des deutschen Ausdruckstanzes, bevor dieser in bedenkliche Nähe zu den Kunstverwertungsauffassungen des Nationalsozialismus geriet, ihre eigentliche Bedeutung für die Entwicklung der Moderne erlangt hatte.
Mag auch sein, dass man sich nicht ganz frei machen kann von den Eindrücken, die sich sofort einstellen, wenn man Strawinskys Musik hört, die verbunden sind mit den Erinnerungen an Choreografien dieses Stückes wie die von John Neumeier, Maurice Béjart, oder auch das von Uwe Scholz für Giovanni di Palma genial kreierte autobiografische Solo zur Fassung für zwei Klaviere. Die Interpretation von Pina Bausch, 1975 in Wuppertal uraufgeführt, noch bevor sich der eiserne Vorhang hob auch in Dresden zu sehen, und noch immer im Repertoire des Tanztheaters, dürfte auch nach wie vor die aufregendste und streitbarste sein. Immerhin aber war es doch Mary Wigman, die 1957 mit ihrer Berliner Choreografie das einst so heftig umstrittene Werk wieder ins Bewusstsein brachte, denn nach der skandalösen Uraufführung und einer weiteren, abgemilderteren Fassung der Ballets Russes von Léonide Massine galt das Stück für unaufführbar.
Insofern – und bei aller Widersprüchlichkeit – belegt dieser Münchner Ballettabend so eindringlich wie nachhaltig, wie wichtig es war, durch die Bundeskulturstiftung den Tanzfonds Erbe zu etablieren. Im Frühjahr wurden die geförderten Projekte des dritten Jahrganges veröffentlicht; Dresden ist wieder nicht dabei. Keine Bewerbung aus der Tanzhauptstadt Sachsens? Immerhin konnte das Leipziger Ballett seine Hommage an den Dresdner Komponisten Udo Zimmermann und den Choreografen Uwe Scholz mit dem Abend „Pax Questuosa – Klagender Friede“ durch diese Förderung 2013 realisieren. Im ersten Förderjahrgang profitierte 2012 die Stiftung Bauhaus in Dessau, und aktuell erhält die freie Produktion von Sebastian Weber und Stéphane Bittuon „The Legend of Syd O´Noo“ in Leipzig eine Förderung. Zudem wird eine weitere große Produktion im Nachbarbundesland gefördert: das Ballett Rossa der Oper in Halle bringt „Lulu“ nach Wedekind von Jochen Ulrich heraus. Sieht man sich die ganze Bandbreite geförderter Projekte an, dann nimmt dieser Münchner Beitrag in konstruktiver Korrespondenz einen guten Platz ein. So lässt sich auch das Motto einer Rezension anlässlich der Premiere verstehen: „Geschichte ist das Fundament der Zukunft“.
Wie die Geschichte des Balletts auf dem inzwischen ja schon historischen Fundament, wie es John Neumeier in über 40 Jahren in Hamburg gelegt hat, wird demnächst zu beobachten sein. Aktuell berichte ich weiter in der Fortsetzung meiner Sommereindrücke von zwei Aufführungen anlässlich der 41. Hamburger Ballett Tage: zwei Mal Neumeier, zwei Mal Triumph des Handlungsballetts, „Peer Gynt“ in einer Neufassung und unverwüstlich, „Romeo und Julia“. Man sieht sich!