Ein „Komponist gegen den Strom“ sei Theodorakis, schrieb der Dresdner Musikjournalist Peter Zacher anlässlich seines 60. Geburtstages in der „Union“. 1985 war das. Zacher umriss zuerst knapp die biografischen Daten: 1925 auf Chios geboren, mit zwölf schreibt Mikis erste Lieder, gründet ein Schülerorchester. Die italienischen Besatzer verhaften den gerade Achtzehnjährigen, foltern ihn, er lebt danach im Untergrund (was ihn nicht daran hindert, das Konservatorium in Athen zu besuchen), schließt sich den Partisanen an. Im griechischen Bürgerkrieg wird er in ein Vernichtungslager eingeliefert, erneut gefoltert. 1950 die Befreiung, Studium in Paris, erste Schritte als Komponist in Westeuropa. Zacher erwähnt den nun folgenden „Terror von rechts“, aber auch die „tiefgreifenden Mißverständnisse von links“. Ende der Sechziger, nach dem Rechtsputsch, erneut Verhaftung und Deportation. Theodorakis, der Liedkomponist, wird zur Integrationsfigur, weltweit entdecken linke Regierungen seine Kunst. Schostakowitsch (!) setzt sich für seine Freilassung ein. Als Theodorakis wieder frei ist, beginnt eine internationale Komponistenkarriere, die in ihrer Popularität beispiellos ist. Auch das Dresdner Publikum feiert und preist sein Volksoratorium »AXION ESTI« (»Lobgepriesen sei«), später auch die »Frühlingssinfonie«, ein Auftragswerk der Dresdner Musikfestspiele. Zum Festival des politischen Liedes 1983 ist er der bejubelte Stargast; so dass Zacher, der die Auftritte Theodorakis’ in der DDR inhaltlich begleitet und Veranstalter in Dresden, Leipzig und Berlin als freier Dramaturg berät, in seiner Laudatio auch unmissverständlich anmerkt: „Sicher zeugen Propagierung und Einsatz der Werke des Komponisten hierzulande nicht immer von besonderem Geschick; zu oft wurden nationale Höhepunkte von dieser Musik mitbestimmt, so daß ein bestimmter Sättigungsgrad unleugbar ist.“
Die Musik Theodorakis’ erreichte das Publikum der DDR mithin in Wellen, die auch politisch motiviert waren. Die erste Popularitätswelle ab 1967 (Erstaufführungen in der DDR: »Mauthausen« und »Griechentum«) ebbte ab, als sich der Komponist Ende der sechziger Jahre der eurokommunistischen Partei zu- und von der „offiziellen“ KP Griechenlands abwandte. Ab 1980, ab der Erstaufführung des »Canto general« zum bereits erwähnten Berliner Festival, wird Theodorakis wieder umgarnt und schließlich umarmt. In einem Nachwendetext (»Mikis Theodorakis – Ein Neubeginn«, Stadtrundschau v. 15. März 1990) beschreibt Zacher: „Man sonnt sich im Ruhm des großen Namens und verwendet diesen, um bei allen möglichen Gelegenheiten Patriotismus absondern zu lassen… Man vereinnahmte den Komponisten ideologisch und nahm gewissermaßen in kauf, daß er Musiker ist. Dieses war weniger wichtig als jenes.“ Einen Neubeginn sah der Autor nach den DDR-Feierorgien im Dresdner Konzert »Im Belagerungszustand«, das im April 1990 den Auftakt einer fünfwöchigen Tournee durch mehrere europäische Länder markieren sollte. Indes – die Vereinnahmungen waren noch zu frisch, die Musik „von gestern“ konnte bei den Nachwende-Dresdnern nicht mehr punkten. Theodorakis wurde zum Zeitphänomen.
Erst heute, da der Komponist seinen neunzigsten Geburtstag feiert, können wir hierzulande eine neue Welle des Interesses feststellen. Zu den Musikfestspielen wurde, dreißig Jahre nach der erwähnten Uraufführung, wieder Theodorakis musiziert. Und im Heimatland des Komponisten? Ist seine Bekanntheit und Beliebtheit ungebrochen. Die Griechenlandkrise hat die patriotischen Töne Theodorkais’ zuletzt noch einmal verstärkt. Nicht umsonst hat Ministerpräsident Tsipras den Volkshelden kürzlich privat besucht. Asteris Kutulas, in Griechenland geboren und in Dresden aufgewachsen, begleitete Theodorakis während seines Germanistik- und Philosophiestudiums in Leipzig als Übersetzer und Assistent durch die „zweite Welle“ (und wird, da Schüler der Kreuzschule, auch an den Kontaktknüpfungen nach Dresden, auch zum Chor der EOS Kreuzschule, wesentlich beteiligt gewesen sein). In der »Jungen Welt« berichtete Kutulas letzte Woche von seinen Eindrücken einer Freiluftaufführung von »AXION ESTI« unterhalb der Akropolis durch das Staatsorchester. „Theodorakis, der in zehn Tagen 90 Jahre alt wird, im Rollstuhl langsam hereingeschoben in dieses Theater unter freiem Himmel, weißes Haar, blaues Hemd, eine große dunkle Sonnenbrille. Die Menschen riss es hoch, sie empfingen ihn. Der Klang des Jubels, der aus dem Gemurmel hervorschoss wie eine Fontäne… Seine Musik heute Abend für fünfeinhalbtausend Menschen die Katharsis. Es ist ihre eigene Musik, eine Offensive, eine poetische Befreiung aus dem Würgegriff ‚Brüssels‘ und der ‚griechischen Politik‘.“
Nach wie vor also wird die Musik von Mikis Theodorakis, mit der sich die Musikwissenschaft lange schwertat, weil sie so volkstümlich daherkam, unverfälscht, aber eben auch deutlich als ein Mittel für einen Zweck lesbar, nach wie vor wird sie politisch gehört und gelesen. Nun aber hören die Griechen »AXION ESTI« als wahre Nationalhymne, als volkseigenen Schatz. Theodorakis wird nicht mehr als Übertüncher von Spaltungen – zwischen Monarchisten und Republikanern, zwischen Nationalisten und Kommunisten, zwischen Pasok und Neue-Demokratie – wahrgenommen, sondern einzig als der griechischste aller lebenden Komponisten.
Es ist Zeit, seine Musik wiederzuhören.