Man könnte es so sagen: Es ist mittlerweile eine gute Tradition, dass im Herbst eines jeden Jahres das Heinrich-Schütz-Musikfest die sächsische und mitteldeutsche Musiklandschaft bereichert. Allerdings würde der Begriff der Tradition suggerieren, dass wir es hier mit einer angestaubten Pflege alter, vielleicht auch veralteter Musik durch und für einen kleinen Expertenzirkel handelt. Angesichts der konzeptionellen Neuausrichtung vor ein paar Jahren und der anschließenden Entwicklung müsste es eher heißen: Es ist mittlerweile eine gute Innovation! Denn seitdem Dr. Christina Siegfried als Intendantin das Drei-Länder-Festival führt, ist eine neue, zeitgemäße Handschrift erkennbar. Wohl sind Heinrich Schütz und seine Zeit der künstlerische und gedankliche Kern des zehntägigen Festivals. Aber vor allem geht es um sinnliche, bewegende, berührende und auch unterhaltsame Konzerterlebnisse in der Gegenwart für die Gegenwart. Christina Siegfried knüpft damit an ein Schütz-Bild an, das in Dresden gute Tradition hat und das der ehemalige Kreuzkantor Martin Flämig 1985 in beeindruckender Klarheit so formulierte:
„Das ureigenste Vermächtnis von Heinrich Schütz und gleichzeitig auch seine Aktualität liegen in seinem künstlerischen Umgang mit dem Wort. Das Wort ist das Zentrum seines Schaffens. Das Einmalige im Umgang mit dem Wort zeigt sich darin, dass er nicht bei dem Erfassen des rationalen Wortsinns und den grammatikalischen Zusammenhängen stehenbleibt, sondern in seiner Musik Dinge wiedergibt und lebendig zu machen vermag, die über die Grenze dessen hinausgehen, was wir in unserer menschlichen Sprache auszudrücken vermögen. Das Unaussprechliche und rational nicht Fassbare gewinnt in seiner Musik Gestalt. […] Obwohl die Entstehung der Musik von Heinrich Schütz länger als drei Jahrhunderte zurückliegt, steht sie gegenwartsnah vor uns, fern allem Historismus und aller Restauration, als ein Stück Vergangenheit, das mit Macht zu uns spricht und dem Wort eine neue und hohe Leibhaftigkeit gewinnt.“
Leibhaftig, mit großer Bildhaftigkeit und Klangpracht treten den Besuchern des Musikfestes dieses Jahr Musiker und Werke entgegen. Unter dem Motto „vor Augen gestellet“ fügen sich herausragende Interpreten der so genannten Alten Musik – die aber mitunter eben so unfassbar neu und gegenwärtig zu wirken weiß – wie farbigste Steinchen zu einem Mosaik zusammen. Von Matteo Messori und der Cappella Augustana bis zum RIAS Kammerchor und Helene Grass reicht der zehntägige Bogen. Hinzu treten unter anderem der Dresdner Kreuzchor, die Capella della Torre, Singer pur, der Jazzmeister Michel Godard und der Dresdner Kammerchor. Besonders üppig ist das Musikfest dieses Jahr nicht zuletzt auch dadurch, dass die Internationale Heinrich-Schütz-Gesellschaft in Dresden weilt und mit Konzerten und einem prominent besetzten Kolloquium als Kooperationspartner das Auftaktwochenende mitprägt.
Tragende Säule der jährlichen Programmatik ist seit ein paar Jahren ein artist in residence, der mit drei Konzerten einen künstlerischen und inhaltlichen Kernbereich formuliert. Hermann Max, einer der führenden Köpfe der Wiederentdeckung und -belebung alter Werke, ist in diesem Jahr der Auserwählte, und tut sich mit einer außergewöhnlichen Konzertkonzeption hervor: In seinen drei Konzerten werden Klänge mit live-Projektionen bebildert. Oder ist es genau andersherum, und die Kompositionen untermalen die ausgewählten Gemälde des 17. Jahrhunderts? In jedem Fall sollen die Konzertbesucher so Einblick erlangen in das Netzwerk-Denken jener Epoche, wo die verschiedensten Künste immer im Austausch zueinander standen, wo Künstler und Wissenschaftler europa- und sogar weltweit eine ‚community‘ bildeten, der auch die unzähligen Krisen und Kriege nichts anhaben konnten. Und sicherlich schwingt in seiner solchen Festivaldramaturgie auch der Wunsch mit, dass die historische Erzählung einer neugierigen und gut vernetzten globalen Gemeinschaft auch als Modell auch auf die Gegenwart abfärben kann.
Und um die Zukunft sorgt oder kümmert sich das Heinrich Schütz Musikfest auch. Eine ganze Reihe von Aktivitäten dient dazu, Alte Musik in junge Hände zu geben. Besonders ragt da ein Konzerttitel heraus: „Der Traum der Frisöse“. Die Komponistenklasse Dresden, bei der unter Anleitung von Silke Fraikin und Milko Kersten neun- bis siebzehnjährige Tonsetzer erstaunliche Werke zu Tage fördern, hat sich auf unkonventionelle-freche Art daran gemacht, die Vergangenheit neu erlebbar zu machen.
Wer sich ein Bild davon machen möchte, was uns die Organisatoren da „vor Augen gestellet“, der muss vielleicht einfach hingehen.
Inmitten der intensiven letzten Vorbereitungswochen nahm sich Christina Siegfried Zeit für einen kurzen Gedankenaustausch:
Christina Siegfried, was sehen Sie, wenn Sie Schütz hören?
Das ist ganz unterschiedlich: Mal sind es Farben, mal steigen regelrecht konkrete Bilder in mir auf. Schütz ist ein großer Rhetoriker und ein großer Maler in Tönen.
Gab es bei Ihrer Beschäftigung mit Schütz eine Art Aha-Erlebnis, das Ihnen die Augen geöffnet hat?
Es gab nicht nur eines. Aber vielleicht zwei Aspekte: Schütz‘ Großartigkeit in der Reduktion – wie in der „Johannes-Passion“ – gepaart mit seinem Empfinden für die Dramatik von Situationen – wie in „Saul, Saul, was verfolgst du mich“.
Bei der Fülle der Aufgaben ist es kaum vorstellbar, aber gibt es derzeit Momente, wo Sie einfach die Augen schließen und Musik hören? Was hören Sie da?
Wenige, aber die müssen auch sein. Gestern waren es Hans-Eckardt Wenzels Becher-Vertonungen. Im Moment aber kann ich am besten bei Gambenmusik von Sainte-Colombe und Marais die Augen schließen.
Wie sehen Sie die Schütz-Pflege in Mitteldeutschland?
Die intensive, breite und vielfältige Schütz-Pflege im deutschsprachigen Raum, die vor allem mit beiden Beinen im Heute steht, hat ihr geistiges Zentrum, ihre zentralen Orte und die wichtigen Protagonisten in Mitteldeutschland. Hier war nicht nur der zentrale Lebensort des Sagittarius, hier befindet sich auch heute die zentrale Pflegestätte – mit weltweiter Ausstrahlung.