Wer montags in die Semperoper zum Konzert gehen will, bewegt sich gegen den Strom. Von der Marienbrücke aus ist kaum noch ein Durchkommen. Der Marsch der Zukurzgekommenen strömt uns entgegen. Just vorm sogenannten Haus der Presse tönt das Wort „Lügenpresse“ aus wutentbrannten Kehlen. Aber so leid es mir tut, die Mehrzahl der grölenden Gestalten macht nicht unbedingt den Eindruck, des Lesens oder gar Schreibens mächtig zu sein. Viele der Mitläufer werden sich anderntags wieder den Blättern mit den fettesten Überschriften und kürzesten Texten zuwenden.
Wer montags in die Semperoper zum Konzert gehen will, wirkt womöglich reichlich spießig. In mehr oder minder feinem Zwirn läuft er gegen die Masse der Bomberjacken und Jogginghosen an, gegen die Basecaps und mit vielsagenden Sprüchen bedruckten T-Shirts. Beim Weg über die Augustusbrücke, die für den Fahrzeugverkehr mittels polizeilich blendendem Blaulicht gesperrt ist, fühlt man sich allerdings selbst beinahe als Mitläufer. Denn noch immer zieht es einige versprengte Gesinnungsgenossen zum besinnungslos grölenden Mob am anderen Elbufer. Was sich da Montag für Montag zusammenrottet, wirkt sehr traurig auf mich. Bei allen Versäumnissen des derzeitigen Bildungssystems, es bietet doch jedem die Chance, ein klein wenig mehr an Verstand aufzuschnappen als das, was hier zu Markte getragen wird.
Ist man dann endlich auch an den die Gehwege blockierenden Polizeifahrzeugen mit laufendem Motor vorbeigekommen – in den verbalen Müll der Massen mischen sich damit ebenso überflüssig noch die schmutzigen Abgase einer selbstherrlichen Staatsgewalt –, so findet man in den Foyers der Oper kopfschüttelnde Menschen um sich herum. Sind wir dafür ’89 auf die Straße gegangen?, fragen die einen. Für sowas zahlen wir nun den Solidaritätszuschlag!, nörgeln die anderen.
Erst mit dem Schließen der Saaltüren verebbt auch das Gegröle vom Theaterplatz, der bis vor siebzig Jahren noch als Adolf-Hitler-Platz bezeichnet worden ist und anderen Aufmärschen diente.
Nun aber herrscht Demokratie und in ihr auch die Meinungsfreiheit, die allzuoft auch mit der Freiheit von Meinung, der Freiheit von Bildung und Haltung verwechselt wird. Bevor man da weiter drüber nachdenken kann, setzt der Applaus ein, um die Musikerinnen und Musiker der Sächsischen Staatskapelle zum 2. Symphoniekonzert der Saison zu begrüßen. Auf dem Programm steht die Symphonie Nr. 6 a-Moll von Gustav Mahler. Es dirigiert der Erste Gastdirigent der Kapelle, der Koreaner Myung-Whun Chung. Er wirkt an diesem Abend erstaunlich aufgeräumt.
Wäre diese Sinfonie eine Oper, könnte man über den Aktualitätsgehalt ihrer speziellen Interpretation deuteln. Myung-Whun Chung braucht dafür keine Noten. Er dirigiert aus dem Kopf und lässt kaum eine Frage offen. Die „Tragische“, als die sie bezeichnet worden ist, beginnt mit einem heftigen Aufbrausen, wechselt in ein zwiespältiges Scherzo, das hier ganz brachial und da recht grazil wirken kann, sie mündet über einen moderat gehaltenen dritten Satz, der mit gedankentief dunklen Farben aufwartet, in ein wundersames Finale, aus dem philosophische Fragestellungen nach dem Sinngehalt des Lebens aufklingen, die auch heute kaum gültig beantwortet werden können. Mal tönt es schwelgerisch, mal hin- und mal mitreißend, sehr oft aber auch einfach nur tragisch, vergeblich, wie zum Verzweifeln. Ein rätselhaftes Werk, das auch heute, mehr als einhundert Jahre nach seiner Uraufführung 1906 in Essen, nicht hinreichend gedeutet werden kann. Biografische Hintergründe wie die Liaison mit Alma Mahler? Man muss sie nicht kennen, sie erleichtern den Zugang zu diesem Werk nicht, können aber sehr viel erklären. Lauscht man den Deutungsmöglichkeiten oder erliegt man der brachialen Wirkungskraft dieser Sinfonie?
Eine exzellente, eine wuchtige und dennoch ausgewogene Aufführung, mit der Chung und sie Staatskapelle ihren gemeinsamen Mahler-Zyklus fortgesetzt haben. Im Applaus war man sich einig und dankte für einen großen, für einen feinsinnigen Abend. Für ein Konzert voll klingender Tragik. Der Riss zu den tragischen Brüllern draußen auf der Straße hätte kaum tiefer sein können.