Noch zwei Aufführungen gibt es in diesem Monat, da müsste eine Begegnung mit „Lucia di Lammermoor“ doch möglich sein? Es lohnt sich auf jeden Fall, dafür einen Ausflug nach Chemnitz zu unternehmen. Denn dort hat diese zur Rarität gewordene Belcanto-Oper von Gaetano Donizetti jüngst eine Premiere gefeiert, die sich ziemlich gut sehen, vor allem aber richtig gut hören lassen konnte.
Donizetti, neben Bellini und Rossini der bekannteste Vertreter dieses bis heute anrührend ergreifenden Opernfachs, hatte für „Lucia“ auf eine seinerzeit populäre Vorlage zurückgegriffen, nämlich auf den Schauerroman „The Bride of Lammermoor“ von Walter Scott. In dieser Geschichte werden Liebe und Tod, Gier und Gefühl unentwirrbar miteinander verknüpft. Die Titelheldin liebt ihren Edgardo, der aber – Romeo und Julia lassen grüßen – einer verfeindeten Familie entstammt. Hier giften sich die Geschlechter aber nicht in Verona an, sondern in den Clans von Schottland, was die Sache keineswegs einfacher macht. Die Dolche sitzen da wie dort reichlich locker. Am Ende ist die Bühne von blutigen Flecken der Theaterleichen – nur der menschliche Wahnsinn macht’s möglich – geradezu übersät.
Dabei könnte es – wenn ohne Vorbehalt – so einfach sein. Doch Lucia und Edgardo sollen nicht zueinanderkommen, weil Lucias Bruder Enrico zwecks finanzieller Absicherung der Familie etwas anderes mit diesem Mädchen vorhat. Der verbrecherische Schwachsinn sogenannter Ehrenmorde ist also keine Erfindung der heutigen Zeit. Und hat auch nicht nur mit irrem Götterglauben zu tun.
Grölende Massen gab es übrigens auch schon in scheinbar überwunden geglaubten Zeiten, wie der bestens einstudierte Chor mehrfach beweist. Wie bei allem, was mit dem menschlichen Verstand zu tun hat, kommt es also stets auf den Standpunkt auch des Betrachters an. Sitzt der nun in den weichen Polstern der Chemnitzer Oper (wo dieser Donizetti nun zum ersten Mal überhaupt auf die Bühne kommt), blickt er in Helen Malkowskys tief dunkel gehaltener Inszenierung von „Lucia di Lammermoor“ (Licht: Holger Reinke) auf ein internationales Ensemble. Den Titelpart meistert die Rumänin Valentina Farcas als ebenso bodenständige wie zerbrechliche Frau mit anrührend starkem Sopran (der sich übrigens nicht nur in ihrer heiß erwarteten Wahnsinnsarie entäußert). Ihr geliebter Edgardo von Ravenswood ist der russische Tenor Artjom Korotkov. Dessen Landsmann Pavel Kudinov gibt Lucias Erzieher mit sonorem Bass, als läge Chemnitz nebst Schottland am Don. Der aus Usbekistan stammende Bariton Alik Abdukayumow ist Lucias rachsüchtiger Bruder, ein gepeitschter Quälgeist seiner selbst. Bizarr wirkt Cordelia Katharina Weil als Lucias Vertraute, die mit geradezu teuflischer Lust das Verderben ebenso in Schwung hält wie der Verräter Normanno, den der Amerikaner Edward Randall bestechend opportunistisch verkörpert.
Diese Lucia kommt nicht aus dem Nichts. Helen Malkowsky stellt ihr eine kleine Lucia zur Seite, ein Kind (Ksenia Buhl in einer beredt stummen Rolle), das geradezu freudianisch frühe Traumata versinnbildlicht. Spätere sollen hinzukommen, die werden geisterhaft vom Chor als Exempel einer omnipräsenten Vergangenheit dargestellt.
Donizettis „Lucia di Lammermoor“ trat vor genau 180 Jahren von Neapel aus ihren Siegeszug durch die Opernhäuser der Welt an. Maßgeblichen Anteil an Erfolg und Popularität dieser Oper hat die sogenannte Wahnsinnsarie der Lucia, die in Chemnitz – wie original vorgegeben – mit berührenden Tönen von einer Glasharmonika begleitet wird. Belcanto sollte schon immer zu Herzen gehen, das gelingt auch in Chemnitz, wo Felix Bender die Robert-Schumann-Philharmonie umsichtig-inspiriert zu berührenden Leistungen antreibt. Dass dazu (in der Premiere) auch kleinere Patzer gehören, macht die Sache (im veristischen Sinne) nur umso glaubhafter.